Am 22. Juni starb der spanische Schriftsteller Javier Tomeo im Alter von 80 Jahren. Die Basler Regisseurin Ursina Greuel lernte den schelmischen Schriftsteller 1996 in Barcelona kennen und zog mit ihm um die Häuser.
Ich lernte Javier Tomeo 1996 in Barcelona kennen. Ich war damals kurz vor dem Abschluss meines Regiestudiums und verbrachte mit einer Freundin und angehenden Bühnenbildnerin Sylvester in Cataluña, als uns einfiel, dass ja der Autor des Textes, der meiner Diplominszenierung zu Grunde liegen sollte, Javier Tomeo, in Barcelona wohnte. Im Telefonbuch fanden wir seine Nummer und riefen ihn an. Er war sofort begeistert, wollte uns treffen und uns die Stadt zeigen. Als er uns sah, freute er sich noch mehr, «eine blonde und eine schwarzhaarige Frau gleichzeitig ausführen zu können», und er fügte gleich an: «Ich bin übrigens nicht schwul, wie das die deutsche Presse immer behauptet.» Javier Tomeo war eine erstaunliche Erscheinung. Liebenswürdig, schalkhaft und chauvinistisch. Er selbst bezeichnete sich als Monster.
Monster sind – das wusste ich aus dem Text «Dialog in D-Dur», mit dem ich mich gerade befasste – Kreaturen, die entweder etwas zu viel (exzessive Monster) oder etwas zuwenig (diminutive Monster) haben. Exzessive Monster haben zum Beispiel sechs Finger, drei Brüste, eine sehr laute Stimme oder sie sind sehr dick. Tomeo war zweifelsohne ein exzessives Monster, gross und korpulent.
Er fuhr uns in seinem Auto durch die Stadt, erzählte uns von einem Stadtplan, den er als Student benutzt hätte, um seine unzähligen Freundinnen auszuführen. Mit verschiedenen Farben hatte er die Orte markiert, um stets zu wissen, mit welcher Frau er in welchem Restaurant bereits gegessen hatte. Als Kriminalistikstudent habe er sich solche Methoden angeeignet. Abends führte er uns in ein Restaurant und nahm uns die Speisekarten weg. «Ich bestelle, was zu euch passt.» Als die Kellnerin kam, zwinkerte er uns zu und meinte, die werde er erschrecken. Er legte seine Hand auf den Tisch, mit einem künstlichen sechsten Finger zwischen Daumen und Zeigefinger. Der stammte aus der Aufführung «Mütter und Söhne» an der Schaubühne in Berlin, der Schauspieler habe ihm den Finger nach der Dernière geschenkt. Er sei etwas schmuddelig, der Finger, er trage ihn halt immer im Hosensack, für alle Fälle.
Versteckter Zuschauer
Tomeo, der nie fürs Theater geschrieben hat, wurde in Deutschland vor allem bekannt durch zahlreiche Aufführungen seiner Texte an grossen Bühnen. Mit ihren spannungsgeladenen Figuren, dialogreich und absurd, eignen sich seine Texte bestens als Theatertexte. Tomeo selber meinte, die Deutschen verstünden seinen Humor besser als die Spanier. Er fuhr zu allen Aufführungen seiner Stücke, immer im Zug, denn er hatte Angst vorm Fliegen. In den Aufführungen dann langweilte er sich oft, schnarchte in der Generalprobe manchmal so laut, dass die Schauspieler Mühe hatten, es zu ignorieren. Kaum war der letzte Satz auf der Bühne gefallen, wachte Tomeo auf und applaudierte begeistert. Am Ende einer Aufführung eines seiner Stücke, die sehr schlecht besucht war, lief er in der Zuschauerreihe hin und her und rief immer wieder mit verschiedenen verstellten Stimmen «Bravo».
Er langweilte sich im Theater, aber er liebte den Kontakt zu den Menschen, die seine Texte umsetzten. Und er machte keinen Unterschied zwischen einer Aufführung an der Berliner Schaubühne und der Diplominszenierung einer Regieschülerin in Bremgarten AG.
Auf einem seiner Zürich-Besuche, er war auf der Durchreise nach Hamburg, bat er mich, ein Hotel für ihn zu organisieren, «aber günstig». Unter «günstig» verstand ich als Studentin allerdings etwas anderes als er, und am nächsten Tag meinte er amüsiert, er hätte auf den Gang gehen müssen zum Duschen…
Als wir einmal durchs Zürcher Niederdorf flanierten, sah er im Schaufenster einer Buchhandlung eines seiner Bücher liegen. Er trat ein und sagte freudestrahlend zur Buchhändlerin, dass das sein Buch sei, das da liege. Er wollte seine Freude und seinen Stolz mit ihr teilen, aber sie zuckte nur die Schultern.
Obwohl er für den Nobelpreis vorgeschlagen war, erhielt er nie eine grössere Auszeichnung. «Ich bin ein Longseller, kein Bestseller. Aber es ist auch schön zu wissen, dass ab und zu immer mal wieder jemand ein Buch von mir kauft.»
Am 22. Juni ist Javier Tomeo in Barcelona im Alter von 80 Jahren gestorben.