Ein schönes Chaos

«Messies» werden sie genannt, weil sie um sich herum eine Unordnung haben. Ist das messbar?

So ein Puff: Einblick in den gelungenen Schweizer Film «Messies». (Bild: Fair & Ugly Filmproduktion)

«Messies» werden sie genannt, weil sie um sich herum eine Unordnung haben. Ist das messbar?

Meine Bücher sind nicht alphabetisch geordnet. Das ist zwar noch kein Indiz, dass ich ein Messie bin. Aber ich habe die Bücher gelesen und sollte sie wenigstens mal ordnen! Aber wie? Sind das schon Symptome? Ich sass einmal im Zug nach Paris einer Studentin gegenüber, die jede gelesene Seite ihre Buches herausriss, zerknüllte und wegwarf! Messies können so etwas nicht. Messies bewahren auf und halten fest. Messies sind wie wir. Im Kopf.

Was sich in meinem Kopf nicht alles tummelt! Worüber stolpere ich, wenn ich schon nur einen klaren Gedanken fassen soll: Parkscheibe verstellen. Salbei umtopfen. Die binomische Formel lösen. Handy neu programmieren. Was da nicht alles gestapelt ist, was ich eigentlich längst wegschmeissen sollte, ehe ich diese Kolumne schreibe! Zum Beispiel haben 1974 die Polen die Brasilianer im kleinen Final 1:0 geschlagen! Wozu weiss ich das? Wenn ich anfange etwas wegzuschmeissen, müsste ich vielleicht auch auf den Kuss meiner Liebsten verzichten aus dem Champions-League Spiel 2007. Und den möchte ich noch ein bisschen aufbewahren! Wie soll ich also Ordnung schaffen?

Wie sieht es in unseren Köpfen aus?

Wenn es eine Delete-Funktion im Hirn gäbe, um zu löschen, worauf ich bereit wäre zu verzichten, ständen zuoberst acht Jahre Latein. Aber geht da nicht auch ein Teil Französisch weg? Oder Catulls Oden? Und wie steht es mit all den geheimnisvollen Fremdwörtern? Und Jacquelines Vulva?

Ich wollte immer schon wissen, wie es in meinem Kopf aussieht. Oder besser noch: in dem meiner Freundin. In «Messies» wird es mir vor Augen geführt. Wunderbar unaufdringlich dokumentiert der Film von Ulrich Grossenbacher, wie es in unseren Köpfen aussehen mag. Es ist ein schönes Chaos, erfüllt von zauberhafter Musik. Liebevoll, mit leiser Trauer und einem umwerfend stillen Humor berichtet der Film von Ordnungs-Sinn und -Unsinn. Von gestapelter Verzweiflung, die einen Menschen befallen kann, wenn er alles, aber auch alles speichert und keine Delete-Taste hat!

Wie da zwischen der Messie-Wohnung und dem aufgeräumten Gemeindebüro hin- und hergeschnitten wird, weckt entlarvend viel Sympathien. Zum Schluss, als Ordnung herrscht, drückt der aufgeräumte Beamte des Ordnungsamtes eine Senftube glatt, rollt sie auf, legt sie auf den Klapptisch – und entscheidet sich dann doch, sie noch aufzubewahren. Das ist doch ein Anfang!

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.03.12

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