Ein Steg aus Worten führt zum Staatsarchiv

Rémy Zaugg wollte mit seiner Kunst immer etwas sichtbar machen. Nutzen tat er dafür Worte. Einige finden wir auf dem Weg hinein ins Staatsarchiv.

Lesen beim Gehen: Remy Zaugg machts möglich.

Rémy Zaugg wollte mit seiner Kunst immer etwas sichtbar machen. Nutzen tat er dafür Worte. Einige finden wir auf dem Weg hinein ins Staatsarchiv.

Das Staatsarchiv Basel an der Martinsgasse auf dem Münsterhügel beherbergt in seinen Sammlungsbeständen Schätze, aus denen sich das Gedächtnis der Stadt zusammensetzt. Und schon vor seinem Eingang wartet eine Trouvaille auf den Besucher: Rémy Zauggs mit Intarsien versehene Betonplatten «Ein Zugang zum Staatsarchiv im Werden».

Im Zuge der äusseren Sanierung des Staatsarchivs durch die Architekten Vischer + Partner wurde 1998/99 ein Direktauftrag an den schweizer Künstler Rémy Zaugg (1943–2005) vergeben, den Weg zum Eingang des Archivs neu zu gestalten. Der 100 Jahre vor dem Auftrag an Zaugg errichtete Gebäudekomplex ist mit dem Rathaus verbunden. Er besteht aus dem Archivgebäude und einem ihm vorgelagerten Innenhof mit Kreuzgang, welcher auf die historistische Vorstellung des Ursprungs von Archiven in Klosterbibliotheken zurückgeht. Der Haupteingang ist diesem Gedanken entsprechend in den Innenhof versetzt worden und durch ein schmiedeeisernes Gitter vom Strassenraum getrennt.

Schon seit 2013 widmet sich die TagesWoche jeweils im Sommer der «Kunst am Wegrand». Alle in dieser Serie erschienenen Artikel finden Sie auf der Themen-Seite Kunst am Wegrand.

Zum Zeitpunkt des Auftrags an Rémy Zaugg war bereits beschlossen worden, die ursprüngliche Symmetrie des Innenhofs wiederherzustellen – in Anlehnung an die geometrische Aufteilung eines Klosterhofs, mit vier rechteckigen, von Kieswegen gesäumten Grünflächen im Zentrum. Es war zudem entschieden worden, Beton als zur vorhandenen Bausubstanz kontrastierendes, zeitgenössisches Material für einen Steg über den Kies zu verwenden, um der Vorstellung von einsam vor sich hin verstaubenden Archivalien entgegenzuwirken. Auch wurde das Hofniveau um zirka eine Treppenstufe wieder auf die ursprüngliche Höhe abgesenkt, so dass der zu gestaltende Weg zur Mitte hin leicht ansteigt.

Ein ruhender Steg

Um zum Archiv zu gelangen, durchquert der Besucher die Hälfte des Innenhofes. Dabei bewegt er sich auf dem Werk von Rémy Zaugg, das mit seinen 14 Betonplatten einen Weg am Eingang des Staatsarchivs vorbei zu dem gegenüberliegenden Kreuzgang bildet.

Die Idee eines auf dem Kies ruhenden Stegs wird nicht nur durch die leichte Wölbung verstärkt, sondern auch dadurch, dass die erste und letzte Betonplatte, wie eine Art Brückenkopf, nahezu dreimal so gross sind wie jede der zwölf übrigen.

In den Beton eingelassen sind matte, glasperlengestrahlte Chromstahl-Buchstaben. Auf der ersten Platte ist zu lesen: DAS DACH / DER BAUM / DER HUND / DAS ESSEN / DIE LUFT / WIRD. Auf jeder Platte entfaltet sich ein weiteres Wortfeld vor den Augen des Gehenden. So findet sich etwa auf dem dritten Feld der Bezug zur umliegenden Natur: DER WALD / DER HÜGEL / DAS TAL / DER BACH / DAS FELD / WIRD, gefolgt von Verweisen auf urbane Mikro- und Makrokosmen rund um das Archiv: DIE KREUZUNG / DER PLATZ / DAS QUARTIER / DER PAPIERKORB / WIRD und wichtigen Organen für die Verdauung und Speicherung von Nahrung und Information: DER MAGEN / DIE LEBER / DAS GEHIRN / DER DARM / WIRD.

Eine bildliche Logik

Das Wort WIRD ist bei allen Platten gleich platziert: unten rechts an Stelle einer Signatur. Es verleiht jedem Substantiv eine offene Lesart. Wenn ich lese: DAS QUARTIER / WIRD, dann ist damit wohl bei den meisten Betrachtern die Vorstellung von einer Veränderung bzw. einem Prozess verbunden, welchen in diesem Fall das Quartier des Münsterhügels fortwährend durchläuft.

Die Anordnung der Worte innerhalb einer Betonplatte entspricht einer bildlichen Logik. Die Substantive sind auf den rechteckigen Platten wie Elemente innerhalb eines Bildgevierts angeordnet, sie entsprechen keiner linearen Schriftfolge. Sie schweben auf dem Grund in räumlichen und inhaltlichen Bezügen untereinander und zu ihrem Rahmen.

Ab der Mitte sind die ersten sieben Platten achsensymmetrisch gespiegelt und führen vom gegenüberliegenden Kreuzgang her kommend zum Archiv. Die Symmetrie ist jedoch auf der vierten Platte unterbrochen, die Rémy Zaugg quasi als Werkbeschriftung einsetzt. Hier ist statt des städtebaulichen Wortfeldes DER KREUZUNG zu lesen: EIN ZUGANG / ZUM STAATSARCHIV / IM WERDEN, 1999, R. Z. Der Titel, den Zaugg als gleichwertigen Bestandteil in den Weg integriert, verbindet auch die beiden zentralen Werkebenen miteinander: den physischen Zugang zum Archiv und die prozessuale Wirkung des Werkes in den Gedanken der Gehenden, welche durch den Titelzusatz IM WERDEN benannt ist.

Ein innerer Dialog

Darin zeigt sich der Kunstbegriff Zauggs, welcher auf einem grundlegend prozessualen Verständnis des inneren Dialogs zwischen Werk und Betrachter fusst. Das Wort WIRD beziehungsweise der Titelzusatz IM WERDEN stehen selbstreflexiv für Zauggs Vorstellung der Wirkung von zeitgenössischer Kunst als einem autonomen Dialogpartner. Sie ermöglicht dem aufmerksam Betrachtenden einen Zugang zur Welt, den er ohne sie nicht so zu sehen beziehungsweise einzuordnen vermag.

Gerhard Mack hat das in seinem wunderbaren Buch «Rémy Zaugg, eine Monographie» im Zusammenhang mit Zauggs Werken im öffentlichen Raum so formuliert, dass es dem Künstler darum geht, «durch Kunst die Stadt ihren Benutzern sichtbar zu machen».

Die Wortfelder jeder Platte eröffnen über das Gehen einen Zugang zu verschiedenen Ebenen des Ortes. Sie ordnen dessen Bezüge zur Welt und zur Natur sowie zum Menschen und seinem urbanen Umfeld und bringen sie in ihrer Vielfalt überhaupt erst in das Bewusstsein des Betrachtenden. Der Steg ist dabei so grundlegend auf den Prozess der Wahrnehmung hin angelegt, dass jeder Besucher des Archivs eigene Qualitäten des Ortes in die offenen Wortfelder hineinzulesen vermag. So bietet das Werk den Bewohnern der Stadt an, diesen Ort, der das Gedächtnis der Stadt beherbergt, in seiner Vielstimmigkeit wahrnehmen zu können und damit auch die Bedingungen des eigenen Lebens innerhalb eines komplexen, städtischen Raums anders verstehen zu können.

Ein neues Heim

Das Staatsarchiv Basel plant, die zu klein gewordenen Räumlichkeiten zu verlassen und gemeinsam mit dem Naturhistorischen Museum Basel einen Neubau in der Entenweidstrasse beim Bahnhof St. Johann voraussichtlich 2020 zu beziehen. So bleibt noch Zeit, Rémy Zauggs Arbeit in ihrem ursprünglichen Kontext zu erleben.

Für den Neubau wurde im April 2014 ein Projektwettbewerb vom Hochbauamt Basel-Stadt ausgeschrieben, dessen Finalisten am 19. August 2015 in einer Ausstellung präsentiert werden sollen.

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