«The Next Day» von David Bowie schob sich im Nu an die Spitze der Charts, von Australien bis Island und der Schweiz. Wer war schon nicht gespannt auf das Comeback des Pop-Grandseigneurs? Haben muss man das Album allerdings nicht zwingend. Nur die Hälfte der 17 neuen Lieder überzeugt.
David Bowie ist wieder in aller Ohren. Mit einer flauschig schönen Version von «Sound & Vision», die uns Sony derzeit in einem Werbespot in die Stuben liefert. Und mit seinem neuen Album «The Next Day», dem ersten seit zehn Jahren. Am Freitag erschienen, schoss es binnen weniger Stunden weltweit an die Spitzen der Charts. Was Gail Ann Dorsey – Bowies langjährige, sensationelle und singende Bassistin – zu virtuellen Freudetänzen veranlasste. «OMG!» kreischte sie auf Facebook und postete die erste iTunes-Verkaufsbilanz: Nummer 1 in über 20 Ländern, von Australien bis Libanon, von Israel bis Island. Und auch in der Schweiz.
Ganz ehrlich: Verwunderlich ist dieser durchschlagende kommerzielle Erfolg nicht. Bowie hat seit seinem ersten Welthit «Space Oddity» (1969) epochale Musik geliefert und mehrere Generationen beeinflusst. Selbst Lady Gaga heisst ihn eines ihrer grössten Idole.
Kündigt eine solche – entschuldigen Sie den Ausdruck – Ikone also nach langer Absenz plötzlich ein Comeback an, ist ihr Aufmerksamkeit und Aufregung gewiss. Und auch der Absatz in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung. Was nicht heisst, dass das Produkt gefallen muss.
Immerhin: Das Album beginnt vielversprechend. «Here I am, not quite dead!», schreit Bowie mit punkigem Trotz im Titellied. Und lässt daraufhin in laszivem Tempo die «Dirty Boys» raus, worin der Saxofon-Funk aus der «Young Americans»-Ära auf das Gitarrenriff von «China Girl» trifft. Durchaus gefällig, diese Reminiszenz an früher, die sich auch im Albumcover manifestiert: Eine Überarbeitung des ikonografischen «Heroes»-Covers (1977).
(Bild: Albumcover)
Doch der Selbstzitate sind es auf Dauer etwas viel, und das in unterschiedlicher Qualität. Zwar geniesst man seinen Gesang, mit dem er in den stärksten Momenten sein Flair für Pathos oder Verspieltheit ausspielt. In «I’d Rather Be High» etwa erfreut er mit eingängigen Sixties-Chören.
Da ist auch viel schöne Vertrautheit im stärksten aller 17 neuen Lieder: «The Stars (Are Out Tonight)» ist voller Grandezza, begleitet von einem starken Videoclip von Floria Sigismondi. Darin reflektiert Bowie seine eigene künstlerische Vergangenheit mit Humor, lässt ein skandinavisches Model den Thin White Duke darstellen. Ein gelungenes Spiel mit Androgynität, wie wir das schon von Filmregisseur Todd Haynes in seiner gelungenen Annäherung an Bob Dylan («I’m Not There»), kennen. Und natürlich von Bowie selber, der im Video an der Seite von Tilda Swinton ganz kokett den älteren Bürger gibt, der sich über die laute Rockband von nebenan ärgert.
Doch während Bowie und seinem langjährigen Produzenten Tony Visconti diese Anspielung auf die Vergangenheit vorzüglich gelungen ist, enttäuschen sie andernorts, etwa in der Uptempo-Nummer «How Does The Grass Grow». Geht der Lalala-Refrain zunächst als Glamrock-Witz durch, wirkt das Stück für eine Bubblegum-Nummer insgesamt allzu zerstückelt, überdreht, konstruiert – und nervt.
Darauf – wir sind in der Albumhälfte – folgen fast nur noch Enttäuschungen. Zum Beispiel «(You Will) Set The World On Fire», das zwar vorwärts treibt und rocken will, aber für maximal mittelmässiges Songwriting steht und für die Tatsache, dass ein Visionär hier künstlerisch stagniert.
Ziggy lässt als Zwitter grüssen
Auch, was die Balladen angeht. Sie sind zum einen oft überproduziert, vermögen zum anderen zu wenig zu ergreifen. Kein Vergleich mit den grossen Klassikern, die er schuf. So ist «You Feel So Lonely You Could Die» musikalisch programmatisch für Bowie 2013: Was hier im 6/8-Takt schunkelt, ist schlicht ein Zwitter aus zwei hervorragenden alten Ziggy-Stardust-Balladen: «Rock’n’Roll Suicide» und «Five Days». Münden diese Lieder aber in umwerfende Dramatik, so bleibt sein neuester Schunkler kaum mehr als ein Zitat mit B-Seiten-Qualität.
Wir erinnern uns: Als einer der ersten Künstler sensibilisierte er die Masse für die neuen Medien, spielte zur gleichen Zeit wie Peter Gabriel in den frühen 90er-Jahren mit der Interaktivität von CD-ROMs und errichtete als erster Künstler überhaupt eine Paywall (BowieNet). Im Informationszeitalter eine gesamte Albumproduktion über zwei Jahre lang geheim zu halten, ist ein neues Kunststück.
Immerhin: Die Ähnlichkeit zu alten Klassikern ist auch Bowie aufgefallen. So schliesst er «You Feel So Lonely …» augenzwinkernd mit dem selben Schlagzeug-Beat wie «Five Years», mit dem er einst die B-Seite des «Ziggy»-Albums eingrooven liess. Und schlägt so einen Bogen über 40 Jahre. Ein netter Verweis.
Aber mit einem Etikett wie nett darf sich ein Musiker wie Bowie nicht zufrieden geben. Er ist schuld daran, dass unsere Ansprüche höher sind als bei anderen stilbildenden Musikern wie etwa den Rolling Stones, die abseits der Bühne seit 30 Jahren kaum Nennenswertes geschaffen haben.
Bowie blieb immer in Bewegung. Liess noch in den 90er-Jahren aufhorchen, als er Industrial, Drum’n’Bass und Techno clever in den Pop überführte («Hallo Spaceboy» oder «I’m Afraid Of Americans»). Aus dieser Zeit scheint der Jungle-Groove im neuen Stück «If You Can See Me» zu stammen, der heute forciert und antiquiert klingt. Für seine Qualität schlicht zu mittelmässig.
Pflege des Gesamtkunstwerks
Natürlich brachte ihn seine Experimentierfreude früher auch mal von der Spur ab (etwa mit der Industrial-Band Tin Machine, doch pinselte er sich (wer erinnert sich noch an seine Bilder in der Basler Galerie von Daniel Blaise Thorens?) damit zum Gesamtkunstwerk.
Und dafür muss man gar nicht immer die Verbindung zu seinem «Berliner-Tryptichon» herbeibemühen. Das in Montreux gemeinsam mit Brian Eno produzierte Album «1. Outside» (1995), eine unvollendete Trilogie, verstörte und faszinierte ähnlich wie einst «Low» durch kontrastreiche Songs («Hearts Filthy Lesson»).
Rätselhafter Bowie, ratloser Fan
Das Spiel mit dieser Undurchschaubarkeit hat Bowie immer gerne gepflegt. Rätselhaft gibt er sich denn auch in manchen kryptischen Texten von «The Next Day», etwa «Heat», worin er wiederholt «My father ran the prison» jammert. Doch das Rätsel evoziert hier auch Ratlosigkeit. Was soll man mit einem dermassen lahmen Lied anfangen (ein im Hintergrund solierender Fretless Bass mag das nicht zu ändern)? Und warum setzt er eine musikalische Stagnation ans Ende des Albums?
Wer ein Veteranenfahrzeug lange stehen lässt, kann auch nicht erwarten, dass dieses gleich ohne Stottern über den Gotthard tuckert.
Die umwerfende Wucht, die Innovationskraft, die Geniestreiche im Songwriting, all diese Qualitäten vermisst man zu oft auf diesem Album. Die Schwankungen, sie sind gross.
«Kill your idol» also? Neinein, das wäre voreilig. Es gilt, nachsichtig zu sein. Wer ein Veteranenfahrzeug jahrelang in der Garage stehen lässt, kann auch nicht erwarten, dass dieses gleich wieder ohne Stottern über den Gotthard tuckert.
Vielleicht ist es ja ein Grower?
Bowie muss sich noch warmlaufen. Und er war so lange weg, dass wir ihm gerne mehr Zeit geben. Vielleicht handelt es sich ja bei «The Next Day» um einen so genannten Grower. Um ein Album, das wächst und wächst, sodass wir es hören wollen, «the next day, and the next and another day…» – und es dabei immer lieber gewinnen. Mit seiner Comeback-Single ist ihm das bereits gelungen. Ging uns der weinerlich-larmoyante Refrain von «Where Are We Now?» anfänglich noch gehörig auf den Sack, so finden wir daran zunehmend Gefallen. Immerhin.
Und falls wir nicht altersmilde Gnade walten lassen mögen, bleibt nach «The Next Day» noch immer die Hoffnung – auf «The Next Strike».