Das Basler Publikum feiert das neue Basler Schauspielensemble, das mit dem Viereinhalbstunden-Epos «Engel in Amerika» von Tony Kushner eindrücklich und vielversprechend startet.
Gott hat das von Gott auserwählte Reich Amerika verlassen, und die alleingelassenen Engel sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Der Engel, der durch die Decke auf die Basler Schauspielhausbühne bricht, trägt einen Trenchcoat und ist eine erotische Erscheinung mit acht Vaginas. Diese ringt dem schwulen Aids-Kranken Prior Walter einen Orgasmus ab und kürt ihn wider seinen Willen zum Propheten.
Das klingt verwickelt, etwas pervers gar. Und ist es auch. Nichts ist einfach in Tony Kushners Dramenepos «Engel in Amerika», mit dem das Theater Basel in die neue Schauspielsaison steigt. Das Stück kann als Aids-Tragödie gelesen werden, womit man ihm aber bei weitem nicht gerecht würde. Es ist auch ein agnostisches Drama der Religiosität und eine bitterböse Abrechnung mit dem amerikanischen Traum, der in den 1980er-Jahren in den Neoliberalismus schlitterte. Oder es sind, wie Kushner im Untertitel schreibt: «Schwule Variationen über gesellschaftliche Themen».
Nichts verschmilzt mehr
Kushner stellt seinem zweiteiligen tragikomödiantischen Epos jeweils einen lakonischen Prolog voraus. Im ersten Teil ist es der alte Rabbiner (Barbara Horvath, die sich auf geradezu umwerfende Art durch einen ganzen Katalog von Frauen- und Männerrollen spielt). Mit starkem osteuropäischem Akzent hält er der Ist-Gesellschaft in einer Grabrede die desillusionierenden Worte entgegen, dass nun gar nichts mehr zusammenschmelze im Schmelztiegel Amerika. Und im zweiten Teil ist es der älteste lebende Bolschewik, der den Verlust der «wunderschönen Theorien» von einst beweint.
Und in der Tat zeichnet Kushner das Bild einer neoliberalen und im Konservatismus verstrickten Welt ohne übergeordnete Moral, in der alle Konflikte erbarmungslos wieder an die Oberfläche getreten sind: die Rassen- und Klassenkonflikte, das Gefälle zwischen arm und reich, schwul oder nicht-schwul. Nicht Gott, sondern nur die Geissel Aids macht da keine Unterschiede, befällt den jungen Lebemann ebenso wie das zynisch-reaktionäre Arschloch.
Verwobene Geschichten
Kushner unterlegt und verwebt diese Metaebene mit einem intelligent und packenden Netz von Handlungssträngen:
- Da ist die Geschichte von Prior Walter (berührend und eindrucksvoll gespielt von Nicola Matroberardino), der von seinem im Selbstmitleid versinkenden Freund Louis verlassen wird, weil dieser mit dem langsamen Todesurteil durch Aids nicht umgehen kann.
- Dazu kommt die Geschichte des konservativen Staatsanwaltes und Mormonen Joseph (Michael Händler), der seine im Valium-Dauerrausch halluzinierende Frau Harper (Pia Händler als geheimnisvoll-unheimliches Wesen) verlässt, weil ihn seine homosexuellen Neigungen in die Arme von Louis treiben.
- Und da ist schliesslich die Geschichte des zynisch-reaktionären Menschenverachters und Staranwalts Roy M. Cohn (schnoddrig-gebrochen gespielt von Roland Koch), der als Handlanger der McCarthy-Säuberungen Homosexuelle an den Pranger gestellt hatte, nun aber selber durch seine homosexuellen Seitensprünge zum Aids-Opfer wurde.
Dazu gesellen sich zahlreiche Nebenfiguren: der mythische und undurchschaubare Engel, dem in der Figur des aufopfernden und klugen schwulen Pflegers Belize ein gütiger Engel gegenübergestellt wird. Die scheinbar verbohrte Mormonin und Mutter von Joseph, die sich letztlich als offenerer Charakter erweist als all die intellektuellen New Yorker. Oder auch eine weise Obdachlose, ein desillusionierter Arzt und Geistererscheinungen (ein beeindruckendes Rollenhopping von Barbara Horvath, Myriam Schröder und Simon Zagermann).
Gott ist abwesend. Und auch die Engel (Myriam Schröder) sind nicht mehr das, was sie einmal waren.
Fesselnder Sog
Die Inszenierung des auch international als Shootingstar gefeierten Regisseurs Simon Stone wischt von Beginn weg die letzten Einwände weg, dass es sich bei «Engel in Amerika» lediglich um ein Zeitzeugnis der 1980er-Jahre handeln könnte, dessen Halbwertszeit abgelaufen ist. Zusammen mit dem hervorragend aufspielenden Ensemble entwickelt er einen Sog, der das Publikum in die Geschichten hineinzieht, an die geschickt verwobene Handlung fesselt und trotz einiger wenigen Längen über gut viereinhalb Stunden (ohne Pausen) nicht mehr loslässt.
Stone bleibt dabei geradezu verblüffend nahe am Werk, er stülpt dem Ganzen keinerlei künstliche Aktualisierung über. Die einzige inszenatorische Freiheit oder Distanz ist die Reihe an Schminktischen und die Garderobenständer, welche die Zuschauer die Verwandlungen der Figuren live miterleben lässt. Ansonsten bleibt er mit einer fast filmischen Ästhetik sehr nahe am naturalistisch gezeichneten Geschehen, das sich immer wieder in höchst berührende (aber nicht sentimentale) Momente hinaufsteigert und auf einnehmende Weise mit den im Stück vorgegeben Kontrastmomenten in einer halluzinatorischen Neben-Dimension gebrochen wird.
Ein gefeierter Auftakt
Einen Tag nach der Oper hat nun auch das neue Schauspielensemble des Theater Basel ein erstes Zeichen gesetzt. Es ist ein Zeichen, das der hohen Erwartungshaltung vollauf gerecht wurde und vom Premierenpublikum, das mit Pausen fast sechs Stunden auf den nicht ganz so bequemen Sitzen im Schauspielhaus ausharrte, mit frenetischem Applaus gefeiert wurde.
Glücklich ein Theater, das ein solch versiertes Talent wie Simon Stone zu den Hausregisseuren zählen darf. Glücklich ein Haus, das über solch hervorragende Schauspieler verfügt. Und erfreulich für die Kulturstadt Basel, die mit künstlerischen Inhalten so gute Argumente für die Unverzichtbarkeit seines Dreispartenhauses vorbringen kann.
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«Engel in Amerika» von Tony Kushner. Theater Basel, Schauspielhaus. Weitere Vorstellungen am 25. und 26. Oktober sowie im November und Dezember 2015