In seinem Erstlingsroman verstrickt Urs Zürcher das chaotische Leben einer 1980er-WG in Basel mit dem Kalten Krieg. Das kann nicht gut gehen. Liest sich aber wunderbar.
Die Katastrophe beginnt auf Seite 406. Der amateurhaft ausgeführte Anschlag der Hegnauer-Wohngemeinschaft auf ein Militärdefilee in Basel am 23. April 1984 läuft schief. Die auf einem entfernten Parkplatz unter einem Militärlastwagen platzierte Bombe geht unkontrolliert hoch und tötet einen russischen Diplomaten. Der Kalte Krieg wird plötzlich ganz heiss. Die Sowjets marschieren in Süddeutschland ein – und erreichen bald Basel, das zur russischen Garnisonsstadt wird …
Was für ein Plot! «Der Innerschweizer» ist eines jener Bücher, die man am liebsten in einem Zug lesen würde. Geht aber nicht. Über 700 Seiten umfasst der Tagebuchroman, der nur so vor Ereignissen strotzt. Trotzdem wird die Lektüre nie anstrengend.
Leichthändig und pyschologisch raffiniert
Leichthändig und psychologisch raffiniert spinnt Urs Zürcher die Fäden seiner WG-Soap mit ihren erotischen Verstrickungen, abendfüllenden Debatten über Gott und die Welt und den kleinen Revolutionen am Küchentisch. Wer zur Zeit der 1980er-Bewegung selber in einer Wohngemeinschaft lebte, schmunzelt über die liebevoll-böse Schilderung dieser juvenil übermütigen, politisch radikalen und auch kleingeistig verbohrten Welt.
Der Autor lässt sie uns durch die Augen seines Protagonisten U. sehen, der 1979 aus der Innerschweiz nach Basel zieht, um hier zu studieren. Minutiös protokolliert er nicht nur das WG-Leben, das wie die Weltgeschichte zunehmend aus dem Ruder läuft, sondern auch die politischen Umwälzungen, die in den 1980er-Jahren für Schlagzeilen sorgten – und sogar das jeweilige Wetter, das präzis mit der Realität übereinstimme, wie Urs Zürcher betont. Das glauben wir dem Autor gerne.
Manipulierte Geschichte
Zig Stunden recherchierte Zürcher – der wie U. aus der Innerschweiz stammt, aber jede Ähnlichkeit mit seinem Protagonisten vehement bestreitet – an der Basler Unibibliothek für seinen Roman. Doch der 50-Jährige ist auch ein Geschichtenerzähler mit einer ziemlich blühenden Fantasie. Zunächst kaum merklich, beginnt Zürcher die historischen Fakten in U.s Tagebuch immer mehr zu manipulieren. So kommt etwa im Oktober 1982 nicht CDU-Chef Helmut Kohl, der spätere «Einheitskanzler», an die Macht, sondern der SPDler Helmut Schmidt bleibt Bundeskanzler.
SP-Präsident Helmut Hubacher steigt zum kampfeslustigen Schweizer Verteidigungsminister auf, der den sowjetischen Invasoren mit harter Hand Paroli bietet. Und SVP-Volkstribun Christoph Blocher wird als Landesverräter zum Tod verurteilt, weil er mit den Russen Friedensverhandlungen führen will – eine köstlich verkehrte Welt.
Auch sich selber bringt Zürcher clever in das wilde Vexierspiel mit der Wirklichkeit ein. In der «Vorbemerkung des Autors» erzählt er, wie er auf U.s Tagebuch gestossen sei. Ein enttarnter Spitzel, der die Hegnauer-WG jahrelang ausgespäht habe und mit dem er in den 80er-Jahren flüchtig bekannt gewesen sei, habe ihn darum gebeten, das Tagebuch mit den hinzugefügten Fahndungsanmerkungen zu veröffentlichen. «Dieser Bitte bin ich gerne nachgekommen», schreibt Zürcher. «Es war ganz einfach.»
Das allerdings glauben wir dem Autor nicht.
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«Der Innerschweizer»: Roman von Urs Zürcher. ISBN 978-3-03762-040-3, 720 Seiten.