Der Fotograf und Filmemacher Danny Lyon ist eine Koryphäe der Dokumentation. Wir trafen ihn zum Gespräch und es hätte ein richtig tolles Gespräch werden können. Mit Betonung auf – hätte.
Danny Lyon liebt Performances. An diesem Montag in einem vollgestellten Bürozimmer im Fotomuseum Winterthur beispielsweise gibt er den störrischen Künstler.
Auf die Interviewfragen geht der 75-Jährige kaum oder gar nicht ein. Das erhoffte Gespräch über sein Schaffen und seine Erfahrungen kommt nicht in Fahrt. Nur ganz selten schmückt Lyon seine ausschweifenden Nichtantworten mit Bonmots und Anekdoten. Aus dem Versuch, den Lesern seine sehenswerten Filme näherzubringen, wird eine knorzige Begegnung voller belehrender Exkurse.
Das hier, diese Interviewsituation, ist nichts anderes als eine Performance. Sie tun so, als ob Sie ein … was auch immer … ein junger Journalist aus Basel wären. Und ich halte meine Rede.
Diese Vorliebe für Inszeniertes erstaunt, denn Lyon ist vor allem für seine gefilmten und fotografierten Reportagen bekannt. Er hat die Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA dokumentiert, eine Motorradgang begleitet und sich über Monate in den Todestrakten verschiedener Gefängnisse in Texas aufgehalten.
(Bild: Danny Lyon, Weight lifters, Ramsey Unit, Texas, 1968 © Danny Lyon / Magnum Photos / Gavin Brown‘s Enterprise)
Auch in seinen Filmen interessierten ihn stets die Menschen am Rand, die Marginalisierten, die Vergessenen. Lyon kam den Bürgerrechtsaktivisten, die an ihrer Demonstrationen die geballte Faust in den Himmel halten, ebenso nah wie den weissen Bikerboys, die in einem Maisfeld einem Mädchen grob zu Leibe rückten. Seine Bilder sind roh, unverstellt und ohne Urteil.
Mir ging es immer darum, die Menschen menschlich darzustellen. Der rassistische, sexistische und antisemitische Tätowierer ist genauso ein Mensch, wie der Mörder, der in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartet.
Vieles, was Lyon im Laufe seiner langen Karriere durch seine Kameras gesehen und verarbeitet hat, scheint heute aktueller denn je. Vor allem seine Bilder von den Bürgerrechtsdemos erinnern daran, was zurzeit über unsere Bildschirme flimmert: die Pipeline-Proteste in South Dakota, der Womens March in Washington, die unzähligen Ausschreitungen und gewalttätigen Polizeieinsätze rund um Black Lives Matter.
(Bild: Danny Lyon, Clifford Vaughs, SNCC photographer, Arrested by the National Guard, Cambridge, Maryland, 1964 © Danny Lyon / Magnum Photos / Gavin Brown‘s Enterprise)
Lyon wäre der perfekte Gesprächspartner, um über die Rolle von politisch motivierter Kunst und Fotografie im Chaos der USA unter Donald Trump zu sprechen. Wäre. Denn Lyon will nicht.
Ihre Fragen sagen viel mehr über Sie aus als über mich. Nur ein kleiner Teil meiner künstlerischen Arbeit war überhaupt politisch motiviert, und das war ganz am Anfang meines Schaffens – Trump würde sagen ‹Karriere›, ich habe es aber nie für eine Karriere gehalten. Ich will lieber über meine Filme sprechen, die letzten zwanzig Jahre habe ich Filme gemacht und keine Demonstrationen fotografiert.
Lyon betreibt einen Blog. Seine Posts sind wütend, aufmüpfig, pointiert. Er nennt Trump «Humpty Dumpty» oder einen «Clown, der gut twittern kann». Lyon ruft dazu auf, auf die Strassen zu gehen und zu protestieren.
Ich mag es nicht, meinen Blog mit meiner Kunst zu vermischen. Der Blog ist kein künstlerisches Werk, sondern ein Mittel, mich persönlich auszudrücken. Das war mir nie ein Anliegen bei meinen Filmen. Es gibt die alte Hollywood-Weisheit: ‹Wenn du eine Botschaft vermitteln willst, dann geh zu Western Union.›
Ist es nicht auch eine Aussage, wenn Lyon in seinen Filmen den Verdrängten eine Stimme gibt? Die Ausgestossenen auf die Leinwand und damit zurück in die Gesellschaft holt? Damit bezieht Lyon Stellung, klar und eindeutig.
Ich sehe die Menschen in meinen Filmen als meine Subjekte an. Wie ein Maler, der zu seinem Modell sagt: ‹Zieh dich aus und nimm diese und jene Pose ein.› Mich interessieren diese Menschen und ich bringe sie dazu, vor meiner Kamera zu performen. Sie gewinnen dadurch an Macht und fühlen sich fast wie Schauspieler. Der Zuschauer soll den Eindruck bekommen, dass dieser obdachlose Junge nicht ein echter obdachloser Junge ist, sondern ein Schauspieler, der diese Rolle mimt. Meine Filme sind keine Dokumentarfilme, auch wenn sie dafür gehalten werden.
Lyon sucht das Echte und setzt dennoch auf die Performance. Ein Widerspruch?
Das Kino braucht eine Performance. Niemand will auf der Leinwand das echte Leben sehen. Sonst könnte man ja auf die Strasse gehen und sich einen Obdachlosen anschauen.
Zum Abschluss seines Auftrittes treibt Lyon die Rolle des eigensinnigen Künstlers auf die Spitze. Er will sich nicht fotografieren lassen, obwohl ausgemacht war, dass noch ein Porträt von ihm gemacht werden soll. Die Fotografin muss seinen Unmut erdulden: Was das denn für ein Hintergrund sei? Und dieses Objektiv. Und sie habe doch jetzt schon zweimal abgedrückt!
Dann hat Lyon genug und läuft davon.
Ich bin der grösste noch lebende Fotograf.
Vorhang zu, kein Applaus.
Irgendwann gelingt es dann doch, das Porträt. Wenn auch etwas mürrisch. (Bild: Anne Morgenstern)
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Wer sich live ein Bild von Danny Lyon machen will, der Fotograf ist heute Abend, 17. Mai, im Stadtkino zu einem Talk zu Besuch. Zuvor zeigt das Stadtkino zwei der frühen Filme von Danny Lyon. Die Vorstellung ist eine Zusammenarbeit mit dem Fotomuseum Winterthur, in dem unter dem Titel «Message to the future» ab dem 19. Mai eine grosse Retrospektive von Lyons Arbeit zu sehen ist.
Das Stadtkino zeigt:
«Soc. Sci. 127» – Ein Film über den Tätowierer Bill Sanders, ein Rassist, Sexist und Antisemit, der unvermittelt zu einer beeindruckenden Antikriegsrede ansetzt.
«Los Ninos Abandonados» – Lyon begleitet eine Gruppe obdachloser kolumbianischer Jungen dabei, wie sie durch Betteln und Stehlen zu überleben versuchen.