Eine Begegnung mit der «Mensch-Maschine»

Kraftwerk haben am Zürich Open Air mit ihrem 3D-Konzert eindrücklich bewiesen, wie sich ihre einst visionäre Musik in die Gegenwart transportieren lässt. Im Anschluss an die audiovisuelle Bewusstseinserweiterung trafen wir Gründungsmitglied Ralf Hütter (66) zum Gespräch. Dabei bestätigte er, dass bald ein neues Album erscheinen soll.

Gründungsmitglied Ralf Hütter als Roboter – und vorne links als wahrhaftiger Mensch an der Maschine. (Bild: Ivo Nigro)

Kraftwerk haben am Zürich Open Air mit ihrem 3D-Konzert eindrücklich bewiesen, wie sich ihre einst visionäre Musik in die Gegenwart transportieren lässt. Im Anschluss an die audiovisuelle Bewusstseinserweiterung trafen wir Gründungsmitglied Ralf Hütter (66) zum Gespräch. Dabei bestätigte er, dass bald ein neues Album erscheinen soll.

Die Meldung, dass Neil Armstrong, der erste Mensch auf dem Mond, gestorben sei, macht gerade die Runde, als ein Mann, der wenige Jahre nach dem amerikanischen Astronauten ebenfalls Neuland betrat, am Zürich Open Air zur Bühne schreitet: Ralf Hütter, 66, Gründungsmitglied von Kraftwerk, ein Pionier des Techno-Pop. Gemeinsam mit seinen drei Mitmusikern lädt er seine Batterie, denn «hier sind die Roboter», wie seine Vocoder-Stimme ankündigt. Auf sich gerichtet: Die Blicke von mehreren Tausend Menschen, allesamt tragen sie kleine Brillen auf der Nase – und sehen staunend, was hinter den vier Männern an Stehpulten auf sie zukommt: Einladende Bewegungen von Roboterfiguren, zum Greifen nah.

Es ist der Auftakt zu einer Reise durch Zeit und Räume, zu einer Schweizer Premiere: Noch nie gingen Visualisierungen an einem Open-Air-Konzert dermassen in die Tiefe, denn was Kraftwerk hier inszenieren, ist nicht einfach eine Revue ihres Gesamtwerks, sondern eine raumfüllende Weiterentwicklung ihrer Visionen: Kraftwerk in 3D.

 

Umwerfend ausgeklügelt

Was sich der Klangmaler und Konzeptkünstler Ralf Hütter schon vor Jahrzehnten erträumt hatte, lässt sich endlich technisch umsetzen – und damit die mehr als 40-jährige Geschichte von Kraftwerk um eine Dimension erweitern. Das Publikum verfolgt dies andächtig und mitunter ehrfürchtig mit und honoriert die Sinneserweiterung zwischen den Liedern mit grossem Applaus. Selbst wer wie unsereiner im vergangenen Oktober in München die Weltpremiere von «Kraftwerk in 3-D» miterlebt hat, gerät erneut ins Staunen und Schwärmen. Weil Kraftwerk einerseits Musik und Visualisierungen weiterentwickelt haben – und weil diese erweiterte Räumlichkeit vor Augen führt, wie umwerfend ausgeklügelt Computermusik auf die Bühne gebracht werden kann.

Erstaunlich ist auch, dass die Musik unter freiem Himmel noch transparenter und knackiger klingt als damals in der Münchner Kongresshalle. Erfreulich, dass das Repertoire leicht verändert und variiert wurde – so haben sie auf lauere Lieder wie «Neonlicht» oder «Schaufensterpuppen» verzichtet. Bedeutend eindrücklicher ist es da, zu «Metropolis» unendlich langen Häuserzeilen entlang zu gleiten. Eine exquisite Wahl.

Nur ganz selten kommt es vor, dass die Inszenierung an Spannung verliert – etwa in der, mit einer leichten Überlänge versehenen Version von «Autobahn». Ansonsten aber ist die detailliert aufeinander abgestimmte Symbiose von Tönen, Bildern und Texten berauschend – ganz zum Schluss auch überraschend: Der grösste Hit, «Das Model», wird an diesem Abend nicht gespielt. Und liessen sich Kraftwerk früher für die Zugaben von Robotern vertreten, so werden in Zürich nach 105 Minuten gar keine Encores gegeben. «Music non stop», repetiert eine Stimme, als sich Hütter im finalen Stück «Techno-Pop» vom Publikum verabschiedet, und wir – Kollege Jean-Martin Büttner vom «Tages-Anzeiger» und ich – ihn zu einem Gespräch hinter der Bühne treffen dürfen. «Kein Interview, nur ein Gespräch», wie das Management im Vorfeld betont hatte.

Höflich und schüchtern

15 Minuten nach Konzertende grüsst uns Ralf Hütter, ganz in schwarz gekleidet, freundlich. Eine so höfliche Erscheinung traut man sich nicht zu duzen. Er wiederum traut sich – höflich wie er ist – nicht, uns die Bitte abzuschlagen, das Gespräch aufnehmen zu dürfen. Sein nervöser Blick macht aber deutlich, dass ihm das ein bisschen unangenehm ist, weshalb wir die Geräte diskret zur Seite legen. Die Notizblöcke bleiben gleich von Beginn in der Tasche. Und dass er sich nicht fotografieren lässt, ist selbstverständlich. Wer sich alte TV-Interviews anschaut, stellt fest, dass Hütter immer wieder einen Roboter statt seiner selbst vor die Kamera stellte. Diese Konzepttreue passt zum Mann, der die «Mensch-Maschine» in die Popmusik eingeführt hat.

Doch die persönliche Begegnung lässt uns vermuten, dass das Ungreifbare, das zum Mythos Kraftwerk beigetragen hat, nicht nur auf das künstlerische Konzept zurückzuführen ist, nicht nur Kalkül und Strategie zugrunde hat, sondern auch etwas ganz menschliches: Hütter wirkt ein bisschen schüchtern. So ganz wohl scheint es ihm jedenfalls nicht dabei zu sein, über seine Musik, seine Kunst zu reden. Das mag erklären, warum er sich in der Öffentlichkeit so rar macht und die meiste Zeit im Kraftwerk eigenen Kling Klang Studio in Düsseldorf verbringt. Ohne Telefonanschluss, so will es die Legende. «Das ist doch völlig normal, sonst kann ich ja nicht arbeiten, ich will doch nicht den ganzen Tag telefonieren», erklärt er mit sanfter Stimme, aber bestimmt – und kurz angebunden. Die Zurückhaltung, die die Musik von Kraftwerk so zeitlos und zugleich so ausbaubar und entwicklungsfähig macht, dringt auch in manchen seiner Aussagen durch, die oft bruchstückhaft wirken und nach ein, zwei Sätzen für ihn beendet sind. 

Spiegel der Gesellschaft

Er spricht von «der Einsamkeit in der Masse», die bei Kraftwerk aufgenommen und wiedergegeben wird. Und davon, dass die Musik so reduziert ist, «dass sie mit uns mitlebt und wir sie immer verändern können.» 1970, in seinen Anfängen, sprach Hütter noch von einer akustischen Darstellung des Ruhrgebietes, im letzten Lied am Zürcher Konzert repetiert die Vocoderstimme «Techno Pop», im Gespräch aber verwendet er den Begriff «industrielle Volksmusik». Eine schöne Definition.

Als wir ihn darauf ansprechen, dass er unser Informationszeitalter besang, lange bevor dieses in allen Privathaushalten Einzug gehalten hat (etwa in «Heimcomputer» oder «Computerliebe»), erinnert Hütter kurz daran, dass Kraftwerk 1981 noch gar keine Computer hatten («das waren ja damals noch diese grossen Schränke») und sie erst nach dieser Plattenproduktion mit den besungenen Mitteln auf Tournee gingen.

Musik sichtbar machen

Auch wenn er auf alle Inputs reagiert: Er bleibt reserviert. Vielleicht prasseln unsere Fragen nach der konzentrierten Arbeit auf der Bühne zu massiert auf ihn herunter, auf jeden Fall lässt sich nur schwer ein ausführliches Gespräch aufbauen. «Wir kamen schon morgens um acht Uhr an», sagt er zweimal, als möchte er sich entschuldigen. Vielleicht ist er auch ein bisschen überrumpelt davon, dass ihm hier Fragen gestellt werden, die er am liebsten einfach nur verdichtet mit seiner Musik beantwortet. «Es wird immer weitergehen – Musik als Träger von Ideen». Hatten Kraftwerk früher viele Lieder mit Archivaufnahmen visualisiert (etwa «Trans Europa Express»), so sind jetzt «abgesehen von alle Bilder von uns selber», wie Hütter erzählt. «Tagesaktualität wollen wir dabei bewusst vermeiden, sondern grundlegende Bilder vermitteln, Zustände sichtbar machen, Impulse verleihen.» 

Nachdem er mit Kraftwerk den Gesamtkatalog visuell und musikalisch überarbeitet und gar in die Museen überführt hat, stellt sich die Frage, ob er auch an eine schriftlichen Bandbiografie denkt. «Mein Buch ist die Musik», sagt Hütter und verweist auf den Bildband «Kraftwerk 3-D», der 2011 erschienen ist und Visualisierungen der Songs enthält. «Bilder zum Klingen bringen, Musik sichtbar machen», darum gehe es ihm, ebenso um «sich selbst kreierende Musik aus Worten». Dass andere wie der ehemalige Schlagzeuger Wolfgang Flür Bücher über Kraftwerk veröffentlicht haben, scheint ihn aber nicht zu stören, auch wenn sie ganz offensichtlich keine Freundschaft mehr verbindet. «Die Kontakte sind abgebrochen, seit über 20 Jahren.»

Was ungebrochen fasziniert, ist die Aktualität vieler Stücke. Am beklemmendsten bekommen wir dies bei «Radioaktivität» zu spüren: 1975 erschienen, haben es Kraftwerk im Juli am «No Nukes»-Festival in Tokio gespielt – und die Aufzählung atomarer Katastrophen (Sellafield, Harrisburg, Tschernobyl, Hiroshima) um Fukushima erweitert. Den Text dazu habe er von seinem Freund Ryuichi Sakamoto übersetzen lassen, sagt Hütter, und sich entschieden, bis auf weiteres diese Version vorzutragen.

Wie waren die Reaktionen in Japan? «Das können Sie sich ja vorstellen. Das ist Wahnsinn. Hier bei uns in Europa schaltet man nach Fukushima die Atomkraftwerke ab. In Japan, wo es passiert ist, sind sie wieder dabei, sie einzuschalten», sagt er ergriffen. Für einmal schwingt da auch ein bisschen Ohnmacht mit, bei seiner gelegentlichen Sprachlosigkeit.   

Ein neues Kraftwerk-Album? «Bald! Bald!»

Doch Hütter macht auch uns sprachlos. Auf die Frage, ob er noch immer gelegentlich in Clubs eintauche, sagt er: «Ja, klar» und fragt, ob es jetzt (Samstag Nacht, kurz vor 2 Uhr) noch einen Ort in Zürich gäbe, wo sie hingehen könnten. Wir haben das Wochenendprogramm abseits des Festivals nicht präsent. Und sind ein wenig erstaunt: Interessiert ihn aktuelle Clubmusik noch immer? Ist er, der Visionär, nicht längst zum Schluss gekommen, dass musikalisch alles schon mal da war? «Nein», sagt Hütter bestimmt und mag keinesfalls lamentieren über den Innovationsmangel neuer Musik. «Musik spielt sich bei Menschen in der Gesellschaft ab», fügt er als Erklärung hinzu. Punkt.

Der «New York Times» erzählte er im April, dass Kraftwerk an einem neuen Album arbeiten würden. Lässt sich die Veröffentlichung terminieren? Hütter lächelt. «Nein», sagt er. «Aber bald! Bald!». Auch über den Inhalt schweigt er sich aus. Gibt es nun, da viele seiner mit Kraftwerk angetönten Visionen Wirklichkeit geworden sind, seinerseits überhaupt noch neue Ideen für einen weiterführenden Futurismus? «Lassen wir uns überraschen», meint Hütter nur, blickt hoch, rüber zur Tür, wo ihn ein Mitarbeiter zum zweiten Mal dazu auffordert, mitzukommen – alle anderen seien bereit zur Abfahrt.

Es sind kaum mehr als zehn Minuten vergangen, seit wir unser Gespräch begonnen haben, gerne hätten wir die versprochene halbe Stunde ausgeschöpft und mit ihm weiterdiskutiert, darüber, wie die Zukunft unserer Gesellschaft aussehen könnte oder wie ihm zumute ist, angesichts der Tatsache, dass Algorithmen heute unser tägliches Leben stark beeinflussen. Doch Hütter entschuldigt sich freundlich, reicht uns die Hand und verabschiedet sich. Ob er sich in dieser Nacht tatsächlich noch unter die jungen Leute in einem Zürcher Club mischte, bleibt ein Rätsel. Eines von vielen, das ihn und seine Band weiterhin umgibt.

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