Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier beleuchtet mit «Sister» die Tal-Tristesse am Fuss der heilen Bergwelt.
Es ist ein Glücksfall für den Schweizer Film, dass die Franzosen sie noch nicht zur «Ursula nationale» gemacht haben. «Für sie bin ich eine ausländische Filmemacherin», sagt Ursula Meier. «Ich lebe in Belgien, meine Produktionsfirma ist in der Schweiz. Vielleicht nimmt man mir das ein bisschen übel in Frankreich.» Sie lächelt verschmitzt. «Für mich geht das in Ordnung. Ich orientiere mich weniger am französischen Film. Ehrlich gesagt finde ich ihn derzeit auch nicht so inspirierend wie etwa das belgische oder das angelsächsische Autorenkino.»
Haben wir eigentlich überhaupt schon eine Frage gestellt? Wir wissen es nicht mehr so genau, in diesem Sitzungszimmer in einem Berner Hotel, wo wir mit Ursula Meier sittsam auf der Couch höckeln und ganz eingenommen sind von ihr. Ihrem Esprit, ihrer Energie, ihren Worten und Gedanken. Die 40-Jährige redet schnell und durchdacht, ohne dabei affektiert oder abgehoben zu wirken.
Man hört ihr gerne zu.
Schwere Last, harte Kost
Und sie redet gerne über ihren neuen Film: «Sister» ist der internationale Titel, «L’enfant d’en haut» heisst er in der Originalversion. Die Geschichte dreht sich um Simon, einen Buben, der auf dem Papier noch ein Kind, im Skigebiet bereits ein Dieb – und in der familiären Verantwortung schon viel zu erwachsen ist.
«Verschwende deine Jugend!», forderten die Punks vor 30 Jahren. Simon verschwendet sie nicht. Simon scheint seine Jugend zu verpassen. Seine grosse, volljährige Schwester verschlampt gerade ihr Leben, und die Eltern … nun ja, es gibt keine mehr. Also fährt Simon morgens mit dem Skipass zu den Gipfeln rauf, klaut Skiausrüstungen, die er unten im Tal verhökert – und Pausenbrote, die er verzehrt. Es ist beklemmend, ihm dabei zuzusehen. Weil man ahnt, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann. Weil man mit ihm leidet, angesichts der schweren Last, die er runterschleppt – physisch und psychisch. Und weil all das auch noch in der Schweiz spielt. Ausgerechnet bei uns.
«Die Berge sind ein häufiges Thema im Schweizer Film», erzählt Meier. «Mir ging es allerdings nicht darum, einen Heimatfilm zu machen. Ich wollte eine soziale Realität darstellen, über die kaum geredet wird.» Meier zeigt zwei Menschen, die durch die Maschen des Sozialstaats fallen.
«Ich habe viele Dokumentarfilme gesehen, ehe ich das Drehbuch schrieb. Mir war aber von Anfang an klar, dass ich selber keinen Dokfilm machen, sondern die Möglichkeit des Spielfilms ausschöpfen wollte.» Was ihr ausdrucksstark und eindrücklich gelingt.
Ursula Meier wuchs als Tochter einer Französin und eines Schweizers in einem Dorf ennet der Genfer Grenze auf. In einem «Nowhere Land», wie sie sagt. Früh lernte sie, Grenzen zu überwinden. Und Ziele zu erreichen. Auf Assistenzarbeiten beim Schweizer Filmemacher Alain Tanner folgten Kurzfilme, TV-Produktionen und dann, 2008, ihr erster Kinofilm «Home», für den sie gleich ein Millionenbudget zugesprochen erhielt. Darin erzählte sie die Geschichte einer Familie, die auch irgendwo im Nirgendwo lebt – und durch den Bau einer vierspurigen Autobahn vom Rest der Welt abgetrennt wird. Dafür gabs den Schweizer Filmpreis. Und internationales Renommee.
«Diesmal, in ‹Sister›, wollte ich eine vertikale Grenze ins Bild rücken», erzählt sie. Eine alte Gondelbahn verbindet Berg und Tal. Oben, über den Wolken, bräunen sich gut situierte Menschen und geniessen den Pistenrausch – unten im Tal hängen dunkle Wolken über den Industriedörfern, reicht die Sicht nur hinauf in die obersten Stockwerke der grauen Wohnsiedlungen. Und selbst wer im Dachgeschoss wohnt, ist noch nirgendwo angekommen.
Rolle auf den Leib geschrieben
Es wäre naheliegend gewesen, Simon und seine Schwester, diese Working Poors, im Secondo-Milieu anzusiedeln. Meier umgeht die Klischeefalle. Der albanische Nachbarsjunge ist nur Käufer von Simons geklauten Skis, weil er im Schulrennen keinen Materialnachteil hinnehmen möchte. Simon, der 12-jährige Schweizer, verdealt die Waren günstig, um sich Nahrung und Kleider kaufen zu können. Und Liebe. Etwa jene seiner Schwester, die weg will aus dem engen Tal (unverkennbar: das Wallis) und auch öfter abhaut – doch dabei nie weiter kommt als bis zur nächsten Bar, in den nächsten PW (wenn sie einen guten Abend erwischt) oder in den nächsten Strassengraben (wenn sie Pech hat). Simon übernimmt die Vaterrolle. Simon übernimmt sich.
«Die Rolle habe ich Kacey Mottet Klein auf den Leib geschrieben», erzählt Meier. Ihn hatte sie für «Home» entdeckt, später überzeugte er in Joann Sfars Biopic über Serge Gainsbourg – und brilliert jetzt in «Sister» erneut dermassen, dass man sich verwundert die Augen reibt. Auch, weil es zum Weinen ist.
«Als ich das Drehbuch schrieb, schwebte mir genau diese Übergangsphase vom Kind zum Pubertierenden vor, diese Mischung aus Unschuld und Frechheit, die Kacey Mottet Klein verkörpert.» Erst da sei ihr eingefallen, dass sie der Figur Simon schon vor vielen Jahren einmal begegnet war: in den Skiferien im Jura, als sie selbst noch Kind war. «Ich erinnerte mich, dass wir vor einem Jungen gewarnt wurden, weil dieser Touristen bestehle – als Nächstes hiess es, er sei aus dem Skigebiet verbannt worden.»
Kindheit und Käuflichkeit
Meier selbst wuchs gutbürgerlich auf. Als sie die Geschichte schrieb, hätte sie am ehesten ihren Vater im Kopf gehabt, sagt sie. Dieser wuchs in einem Zürcher Dorf auf, in einfachen Verhältnissen, arbeitete sich hoch, zum Geschäftsmann. «Auch Simon kämpft sich durch, unten im Tal – und hat den Kapitalismus verstanden, der die Leute oben reich gemacht hat. Zumindest glaubt er, ihn verstanden zu haben.»
Als Simon eine Wunsch-Mutterfigur erblickt, eine englischsprachige Touristin mit zwei Kindern, will der Zwölfjährige sich ihre Zuneigung mit Schweizer Franken kaufen. Partout besteht er darauf, ihren Hamburger zu bezahlen. Die verdutzte Dame, die hier einen Gastauftritt hat, wirkt mondän. Und vertraut. Ist das nicht …? Genau: Gillian Anderson, die in den 90er-Jahren als Agentin Scully die «X-Files» bearbeitete. «Ich wollte eine Schauspielerin, die man kennt, aber nicht gleich weiss, woher schon wieder.» Auch das ist Meier gelungen. Nach Isabelle Huppert («Home») hat sie erneut einen Star geangelt – und geschickt inszeniert. «Gillian verabschiedete sich am Ende der Dreharbeiten mit der Bitte, dass ich ihr beim nächsten Mal eine Hauptrolle schreiben soll», erzählt Meier vergnügt und zugleich ernsthaft. Man glaubt ihr alles aufs Wort.
Wohin soll das noch führen, Frau Meier? Sie weiss es nicht. Aber wir können es ahnen: nach oben. Für «Home» wurde sie 2009 mit dem Schweizer Filmpreis geehrt, für «Sister» erhielt sie heuer einen Silbernen Bären. Wo hat sie diesen hingestellt? «Nowhere», sagt sie einmal mehr und lacht. «Ich musste ihn nach Berlin zurückschicken.» Weil es sich um einen Sonderpreis der Jury handelte, erhielt sie eine provisorische Trophäe.
Ein verdienter Erfolg. Ursula Meier beweist mit ihrem eindringlichen Film, dass die Zukunft des Schweizer Autorenkinos, welches zuletzt von den Erfolgen der Dokfilmer in den Hintergrund gedrängt wurde, weiblich ist. Und rosig. Es würde uns nicht erstaunen, wenn sie mit ihrem nächsten Film einen internationalen Hauptpreis gewinnen würde. Spätestens dann dürften auch die Franzosen die Doppelbürgerin für sich beanspruchen. Und spätestens dann sollten wir – so offen wir auch sind – aus berechtigtem Stolz eine kleine Grenze ziehen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20.04.12