Eine Studie von SRF stimmte eben erst ein Loblied auf die Basler Musikszene an: Kein Kanton hat mehr Bands und auch bei den Radio-Airplays geben wir den Ton an. Wow! Da kann man sich ein Kränzchen winden, saisongerecht mit Kerzen drauf.
Die Daten der Studie stammen von der Schweizer Musik-Plattform mx3.ch. Beflügelt vom internationalen Interesse an lokalen Überfliegern wie den Poppreis-Gewinnern Zeal & Ardor, richtet man den Blick selbst in die Welt. Vielleicht fördert oder zeigt das Internet weitere Musik-Wunder, die wider den Mainstream-Sound grosses Gehör finden.
Und siehe da: Es muss nicht immer laut brettern. Audio Dope hat mit seiner neuen Single «Floating» letzten Monat beim Streaming Marktführer Spotify 143’942 Hörer gefunden. Sein Manager Frederick Dürr erklärt die hohe Zahl aktueller Streams mit der Aufnahme des Songs in viele kuratierte Playlisten der Plattform. Der Song wurde am meisten in den USA, Australien und Kanada gehört. Die Schweiz folgt erst auf Rang acht.
In die offizielle Schweizer Hitparade hat es «Floating» nicht geschafft. Streamings fliessen zwar seit 2014 auch mit ein. Gegenüber Downloads oder physischen Käufen werden sie aktuell allerdings nur mit einem Anteil von 1:238 gewertet. Der Verband Schweizer Musiklabels IFPI, der mehrheitlich die auf Verkaufszahlen basierte, offizielle Hitparade in Auftrag gibt, begründet das Verhältnis damit, dass ein Song beim Streamen nur «geliehen» wird.
Wie das Verdienst-Verhältnis zwischen gekauften und geliehenen Songs ausfällt, wird immer wieder heiss diskutiert. Einige Künstler verweigern sich den Streaming-Diensten. Hier interessiert jedoch die Frage: Hört die Masse heute dank Entdecker-Funktionen der Plattformen und Playlist-Abos bei kundigen Kuratoren mehr Indie-Musik jenseits der Mainstream-Acts der grossen Labels, die dank grossen Namen und Werbe-Budgets immer noch 80 Prozent des Marktes dominieren?
Gleichklang an der Spitze
Ein Vergleich der Jahrescharts von Spotify mit den traditionellen Hitparaden der Musikverbände zeigt jedoch: Ob geliehen oder gekauft – im Westen nix Neues. Wo Weisse dominieren, dudeln dieselben Ohrwürmer. 2017 am liebsten die von Ed Sheeran. Sowohl als Interpret als auch mit seinem Hit «Shape of You» thront der 26-jährige Brite mit der Schrummelgitarre an der Spitze fast aller Jahrescharts. Bei Spotify ist «Shape of You» mit 1,4 Milliarden Streams der erfolgreichste Song aller Zeiten.
Die offiziellen Verkaufszahlen der Musikbranche für das Jahr 2017 sind allerdings noch nicht draussen und in ein paar Ländern (darunter die Schweiz) könnte je nach Zählweise auch «Despacito» von Luis Fonsi Feat. Daddy Yankee der Hit des Jahres werden.
Aber das Abklappern und Auslesen verschiedener Listen und Rechner (chartsurfer.de) bestätigen den Eindruck, dass die Mainstream-Musik global immer eintöniger wird. International werden die Top-Ten von denselben Namen geprägt: Drake, The Chainsmokers, Imagine Dragons – you name it.
Prägnante Unterschiede findet man nur dank Superstars, die in der jeweiligen Landessprache singen. Am Beispiel von Deutschland erkennt man bei diesen Künstlern auch den grössten Unterschied zwischen Spotify und den traditionellen Charts: das Alter der Musikhörer. Heissen die Abweichler von westlichen Einheitscharts bei der traditionellen Musik-Klientel Helene Fischer oder Die Toten Hosen, so mischen bei den jungen Streamern Strassenrapper wie RAF Camora, Bonez MC oder Kollegah die Jahrescharts der erfolgreichsten Interpreten auf.
Der regionale Überflieger bleibt in allen Kategorien DJ Antoine.
Die Schweiz? Rechnet man mangels offizieller Zahlen mit dem Punktesystem anhand der diesjährigen Chartpositionen, zeigt sich bei den herkömmlichen Charts ein Riesenunterschied zwischen Singles und Alben. Während kein einheimischer Song es bei den Singles nach oben schafft, dominiert bei den Alben – nach Ed Sheeran – Alpen-Folklore wie Heimweh, Schwiizergoofe oder Trauffer. Auf Spotify sind es dagegen The Big Five: Ed Sheeran, Drake, The Chainsmokers, Imagine Dragons und – oh, Überraschung! – Coldplay, die Daddy Yankee auf Rang fünf verdrängen.
Auch Basel streamt nicht anders, mal davon abgesehen, dass RAF Camorra auf Platz 6 steht. Was die Konsumenten angeht, tickt die frisch gekürte Musikhochburg im Gleichtakt mit der Schweiz, Österreich oder Deutschland. Was wohl daran liegt, dass auch hier die meisten Nutzer die «Today’s Top Hits»-Playlist abonnieren, dazu noch «Top Hit’s Deutschland».
Seit August gibt es zwar auch Playlists mit Schweizer Musik. Relevanz haben sie aber weder global noch national. Audio Dope übertrifft dank seiner aktuellen Single derzeit die anderen Basler Musiker, die für den Poppreis nominiert waren, bei weitem. Geht es um Follower, haben aber auch hier Zeal & Ardor am meisten «Servants» – um die Bezeichnung der Band für ihre Anhänger zu benutzen. Der Überflieger bleibt aber in allen Kategorien DJ Antoine. Er ist der einzige Musikschaffende aus der Region, der es dieses Jahr mit einem Song in die Schweizer Hitparade geschafft hat.
Aber Hitparaden, insbesondere Jahrescharts, spiegeln nicht die aktuell interessanteste Musik. Die ist auf den Streaming-Plattformen durchaus vorhanden. Doch gemäss einer Studie des britischen Datenanalyse und Medien Instituts MIDiA werden nur fünf Prozent der Musik wirklich gehört, der grosse Rest findet bei den Nutzern keinen Anklang.
Die Fülle an Möglichkeiten allein macht aus Nutzern von Streaming-Plattformen noch keine Musik-Nerds.
Man kann Streaming-Plattformen nicht für die Faulheit oder den Mangel an Musikinteresse der Nutzer anprangern. Immerhin ergab eine Studie der Universität Tillburg, Niederlande: «Der durchschnittliche Nutzer von Spotify entdeckt rund 27 neue Künstler pro Monat.» Spotify-Nutzer entwickeln auch ein Flair für Nischenmusiker. So sinkt der Anteil an Top-100-Künstlern bei neuen Usern nach zwei Wochen von 18 auf rund 15 Prozent. Doch werden die Neuentdeckungen meist nur einmal gehört, vertraute Musik aber wieder und wieder.
Die Fülle an Möglichkeiten macht aus Nutzern von Streaming-Plattformen also keine Musik-Nerds. Und wenn Spotifys neustes Experiment mit dem Verkauf von Playlist-Plätzen erfolgreich ist, dürften die Branchengrössen dort ihre Macht weiter ausbauen.
Wenig überraschend klagen nicht nur Musiker, sie bekämen zu wenig Geld von Spotify. Der Streaming-Riese selbst beklagt wie Apple Music, dass sie rund 70 Prozent ihrer Einnahmen an die grossen Labels Universal, Warner Music und Sony zurückgeben müssen. Diese besitzen rund 80 Prozent aller aufgezeichneten Musik und sitzen darum am längeren Hebel.
Defizit und Zuversicht bei Spotify
Trotz schnellem Wachstum und der zunehmenden Bedeutung des Streamings haben sich die Verluste von Spotify letztes Jahr mit 539,2 Millionen Euro mehr als verdoppelt. Und dabei hat das Unternehmen unlängst einen über 17 Jahre laufenden Mietvertag für neue Prestige-Büros im World Trade Center New York unterzeichnet, der insgesamt auf 566 Millionen Dollar zu stehen kommt.
Spotifiy schafft damit langfristige Verbindlichkeiten, was in dieser Branche einiges an Gottvertrauen braucht. Um abzuschätzen, was für Umwälzungen im schnelllebigen Musikbusiness passieren können, muss man nur auf die letzten 17 Jahre zurückblicken, in denen kein Stein auf dem andern geblieben ist.
Zwei Prognosen seien trotzdem gewagt: Die Mainstream-Musik wird nicht mannigfaltiger, und nur wer Musik direkt am Konzert kauft, kann sicher sein, dass Kunde wie Künstler wirklich etwas in der Hand halten.