Er erhielt das allererste Cembalo-Diplom der Schola Cantorum Basiliensis. Und prägte fortan die Alte-Musik-Bewegung wie nur wenige. Der niederländische Cembalist Gustav Leonhardt ist im Alter von 83 Jahren gestorben.
Zehn Jahre ist es her, dass Gustav Leonhardt in mein Leben trat. Ich erinnere mich noch so genau daran, als wäre es gestern gewesen – denn diese Begegnung kam einer Offenbarung gleich. Damals, im Wintersemester 2001/2002 sassen Studierende im Seminarraum des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Basel, einige wenige, wie es für die so genannten Orchideenfächer eben üblich ist. Professor Wulf Arlt referierte über die Musik um 1650, eine für viele von uns damals gänzlich unbekannte Zeit. Das «Tombeau sur la mort de Monsieur Blancrocher» von Johann Jakob Froberger stand auf dem Programm, ein Werk für Cembalo Solo, das den Tod des Herrn Blancrocher klanglich nachzeichnet. Blancrocher war die Treppe hinunter gefallen, und die Musik gibt genau das zu hören: Holterdipolter geht es am Schluss von ganz oben in den Keller der Tonskala, kein Schlussakkord, nichts. Unser Professor legte eine CD ein, er tat es weihevoll und mit einem wissenden Grinsen: «Jetzt hört ihr, was ihr noch nie gehört habt», mag er sich wohl gedacht haben – und hätte sich damit nicht getäuscht. Nie zuvor hatten wir ein Cembalo so klangvoll spielen, ja, singen gehört. Und nie zuvor kam die Interpretation einer Analyse gleich, so logisch und viel klarer, als es Worte meist vermögen.
Exakter Intepret
Wer in den letzten Jahrzehnten etwas mit Alter Musik zu tun hatte, der kam um Gustav Leonhard nicht herum. Seine zahlreichen CD-Einspielungen sind beispiellos in ihrer Akkuratesse, in ihrer exakten Lesart des musikalischen Materials. Und auch in ihrer Werkauswahl, in ihrer Konsequenz der Beschränkung. Leonhardt konzentrierte sich auf das, was ihn wirklich interessierte: Die Musik für Tasteninstrumente bis etwa 1750. Alles, was nach den Bach-Söhnen kam, war nicht sein Ding, und er liess es bleiben, kokettierte nicht, wie etwa seine Kollegen Nikolaus Harnoncourt oder René Jacobs, mit Mozart-Opern oder noch späterem Repertoire. Lieber drang er tief und tiefer in seine Materie ein, verinnerlichte, wie die Cembalisten und Organisten von einst gedacht, empfunden haben mochten, welche klanglichen Möglichkeiten aus all den verschiedenen Bauweisen der Cembalo-Familie, aus all den verschiedenen Orgeln resultieren konnten. 1967 verkörperte er sogar den von ihm hochverehrten Johann Sebastian Bach in Jean-Marie Straubs Film «Chronik der Anna Magdalena Bach».
Zurückhaltender Aristokrat
Wer das Glück hatte, Leonhardt im Konzert zu erleben, sei es als Cembalist, Organist oder Dirigent, dem dürfte sich dieser Charakter eingeprägt haben: ein zurückhaltender und doch durch und durch aristokratischer Mensch, ein schlichtes, schnörkelloses und doch bestimmtes, unnahbares Auftreten. Man konnte nur staunen über seine bis ins letzte Detail überlegten Interpretationen, über die Abgeklärtheit im Äusseren bei gleichzeitig grösster Experessivität im Klang, über die Eleganz seines Vortrags, den Reichtum an musikalischen Nuancen. Und über die Sicherheit, ja vollkommenen Überzeugung in der stilistischen Herangehensweise, die sich nicht nur aus Üben, sondern auch aus eigenen Forschungen genährt hatte.
Mit Basel verbunden
Gustav Leonhardt studierte einst an der Schola Cantorum Basiliensis und erhielt hier 1950 das erste Cembalo-Diplom überhaupt. Er blieb der Stadt am Rheinknie verbunden, gab Workshops und Rezitals. Seine Schüler und Schülersschüler pilgerten zu diesen Anlässen, in den letzten Jahren stets befürchtend, es könnte sein letztes Konzert sein. Doch Leonhard kam immer wieder, passte seine Programme weise den nachlassenden Kräften an. Seine Konzertlaufbahn beendete er erst im vergangenen Dezember, aufgrund seines gesundheitlichen Zustands. Nun ist Gustav Leonhardt am 16. Januar 2012 im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben.