Die britische Band Radiohead gab im Steinbruch von St-Triphon (VD) ein fantastisches Konzert. Wäre der Anlass logistisch doch nur halb so gut strukturiert gewesen wie die grandiose Musik.
Während der ersten 15 Minuten des Radiohead-Konzertes fühlten wir uns im Dunkeln gelassen. Umgeben von vielen Seelen und doch verloren. Völlig verstockt. Grund ist nicht die Musik, nein, diese haben wir nur aus der Ferne gehört. 1,5 Stunden lang staute sich der Verkehr und mit jeder Minute auch eine Wut in unserem Bauch auf. Im Dunkeln gelassen fühlten wir uns von der Verkehrs- und Besucherführung. Diese, gab selbst ein involvierter Verkehrskadette zu, war chaotisch und auch für ihn verwirrend. Die Organisation dieses letzten grossen Open-Air-Konzerts im Jahr 2012 – sie war eine blanke Katastrophe.
Dabei hatten die Veranstalter (gemäss Ticketaufdruck das Walliser Caprices Festival und Montreux Jazz) genügend Zeit gehabt, diesen ausserordentlichen Anlass in einem Steinbruch bei St. Triphon vorzubereiten: Am 31. Januar 2012 startete der Vorverkauf, noch am gleichen Tag waren die Tickets für den Event im Juli ausverkauft. 109 Franken zahlte man für einen Stehplatz, man hätte erwartet, dass in diesem Preis auch ein guter Service enthalten wäre.
Wut und Frust
Nachdem die Briten aufgrund eines tragischen Unfalls ihr Schweizer Konzert auf September verschoben hatten, gewannen die Veranstalter zusätzlich Zeit, um sich für die logistische Herausforderung zu rüsten, Tausende Autos und zahlreiche Busse zeiteffizient durchs Waadtländer Rhonetal zu schleusen. Denkste! Entsprechend gross waren Wut und Frust, als unsereiner nach stundenlanger Anreise schliesslich auf dem improvisierten Konzertgelände eintraf. Als wären die Unannehmlichkeiten (riesige Staus, lange Wege, grosse Engpässe, überfüllte Busse, unmarkierte Parkplätze) nicht genug: Vor Geldwechsel-Hütten bildeten sich dauerhaft lange Schlangen.
Die Veranstalter schafften es tatsächlich, das umständlichste Gastrokonzept seit Festivalgedenken umsetzen zu wollen: So musste man Verpflegungsbons erstehen und dabei bereits angeben, wie viele Getränke und welche Art Essen man an den umliegenden Ständen zu konsumieren gedenke. Wer hätte gedacht, dass der organisatorische Unsinn des Zürich Open Airs noch gesteigert werden könnte? Zum Glück spielten Radiohead in einem Steinbruch. Die geballte Ladung an Fluchwörtern, die von allen Seiten an unsere Ohren drang, hätte eine Kirche zum Einstürzen gebracht.
Wonne und Freude
Es spricht für die Darbietung des Quintetts, dass Wut und Frust während des Konzerts völlig in Vergessenheit gerieten. Was Thom Yorke und Co. an diesem 20. September 2012 live boten, war schlicht umwerfend. Bewusstseinserweiternd. Sie übertrafen sich selbst – und auch ihr unvergessliches erstes Gastspiel in der Romandie, damals in Montreux, im Juli 2003.
In St-Triphon blieb sich die Band in ihrer Unberechenbarkeit treu: Sie überraschte das Publikum immer wieder mit Songauswahl, Arrangements und Dramaturgie – ohne aber dabei der Versuchung zu verfallen, zweckfrei Erwartungen zu brechen und sich selbstverliebt im eigenen Nonkonformismus zu verlieren.
Nein, Radiohead gelang das Kunststück, Kunst zu machen, ohne gekünstelt zu wirken. Sie flochten dabei Songs ebenso in ihr Set ein wie Tracks, populäre Klassiker («Paranoid Android») wie Unveröffentlichtes («Identikit»). Und erfreuten dazwischen immer wieder mit unbekannteren Perlen, zum Beispiel dem Zugabesong «Daily Mail». Dieser fängt die hechelnde Hektik des Boulevards musikalisch ein, unterlegt von tiefen Stoner-Rock-Gitarren und treibenden Rhythmen. Ein Beispiel für die meisterhafte stilistische Verästelung, die im Titel ihres letztjährigen Studioalbums «The King of Limbs» angedeutet ist.
Wunderbar und facettenreich
Die Klangschichten, die Radiohead im Studio zusammenführen, entfalteten live oft gar noch eine grössere Sogwirkung. «The Gloaming» wurde zum klanggeworden Trip, der Grossteil der Lieder erzeugte hypnotische Wirkung (von «There There» bis «Everything In Its Right Place») und eine räumliche Tiefe, die wunderbar mit dem Bühnenbild korrespondierte. Bestechend, wie mobile LCD-Panels nicht nur für vereinzelte Farbtupfer sorgten, sondern auch die Dimensionalität erweiterten, ihrer Musik mit geschickten Illuminationen visuell den Raum gab, den sie verdient hatte.
Und als wäre das alles nicht genug, erlebte man auch noch einen Thom Yorke in Bestform, gutgelaunt wurde er immer gesprächiger («il parle français»!), ja, er lachte gar beherzt auf, als er 50 Meter über der Bühne Wunderkerzen winken sah. Einige waghalsige Fans hatten sich auf dem imposanten Felsen eingenistet, um das Konzert gratis und von oben mitzuverfolgen.
Hat dieser Thom Yorke seine Stimme auf einer Schweizer Bühne jemals so versatil eingesetzt? Unvorstellbar. Er erweiterte seinen klassischen Klagegesang nicht nur um Klangspielereien mittels gezieltem Einsatz von Effekten (Delays, Loops), sondern setzte auffallend oft zu herrlichen Soulvariationen an – seufzte, schrie, sang facettenreich, dass es eine Freude war. Dass er ausgerechnet bei den «OK Computer»-Klassikern hier und dort mal in der Lage verrutschte: vernachlässigbarer Schönheitsfehler.
Effektreich und elektronisch
Umwerfend war aber nicht nur der Frontmann, im Hintergrund bewies Johnny Greenwood einmal mehr, warum er sich mit seiner Gitarrenarbeit nicht hinter den innovativen Ansätzen eines Robert Fripp verstecken muss. Auch das Rhythmusduo hat über all die Jahre an Virtuosität und Klangvielfalt zugelegt, dabei weitere Stilnuancen integriert: Auffällig in St-Triphon, wie die Breakbeats von früher zunehmend jazziger interpretiert werden, wie die ungeraden Taktarten neu fliessen und mit elektronischen Spielereien angereichert worden sind. Radiohead sind dermassen progressiv, dass der Staub, mit dem diese Genrebezeichnung bedeckt ist, vollkommen weggefegt wird. Was diese Band macht, ist ebenso Jazz wie Artrock, Electronica, Avantgarde oder Alternative. Was diese Band bei ihrem ersten Schweizer Konzert seit Jahren machte, war mit einem Wort zusammengefasst: Fantastisch. Und hallte noch lange in unseren Ohren nach. Fast so lange, wie unsere Odyssee zu den Parkplätzen, raus aus dem Rhonetal dauerte. Und das, Sie können es mir glauben, dauerte noch einmal verdammt lang.