Mit «The Rum Diary» löst Johnny Depp ein Versprechen ein: Er bringt den Roman seines verstorbenen exzentrischen Freundes Hunter S. Thompson ins Kino.
Wenige Tage nach dem glänzenden Auftritt von Michelle Obama glänzen noch immer die Augen vieler aufrechter Amerikaner, wenn sie an die Rede der First Lady zurückdenken. Engagiert, emotional, eindrücklich rief sie beim Kongress der Demokraten alte Werte und alte Worte in Erinnerung, beschwor den amerikanischen Traum. Selbst Starkolumnisten wie John Cassidy vom «New Yorker» schwärmten danach, wollten in diesen Minuten die Stimme einer potenziellen Präsidentin vernommen haben.
Dabei ist das Zukunftsmusik – die Gegenwart zeigt, dass ihr Gatte bangen muss, überhaupt wiedergewählt zu werden. Und was ist mit der Vergangenheit? «Yes, We Can!» hallt diese nach. «No, We Can’t». Zu dieser Erkenntnis war Jahrzehnte zuvor ein Mann gekommen, der den amerikanischen Traum als Trugschluss entlarvt und seine Hoffnung für dieses Land begraben hatte: Hunter S. Thompson. Journalist. Schriftsteller. Für manche ein Zyniker, für andere ein Realist, der die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit spitzer Feder beschrieben und dabei den Gonzo-Journalismus erfunden hat.
Rausch und Rock ’n’ Roll
Die Geschichte von Hunter S. Thompson ist eng mit seinem Werk verbunden. «Er ist unter den amerikanischen Journalisten der beste Schriftsteller – und unter den Schriftstellern der beste Journalist», hielt die «FAZ am Sonntag» fest. Drogen und Alkohol ebenso zugeneigt wie dem Rock ’n’ Roll, Sportwagen und Frauen, brachte er seine rauschhaften Erlebnisse auf Papier – und als Reportagen getarnt unter die Leute: «Hell’s Angels» oder «Fear and Loathing in Las Vegas» gehören zu seinen bekanntesten Werken.
Jetzt kommt «The Rum Diary» ins Kino. Spät entdeckt (1998), früh geschrieben (1959). Thompson war 22 und hatte noch Träume. So wie der Protagonist in diesem Roman, Paul Kemp. Dieser hat Bücher geschrieben, ohne Erfolg, denn «diese hatten noch keine Stimme.» Thompson berief sich dabei auf seine eigenen Erfahrungen: Als Teenager schrieb er Geschichten von Hemingway ab, um sich auf der Schreibmaschine an sein grosses Vorbild heranzutasten. Er verinnerlichte die Aussage von Nobelpreisträger William Faulkner, wonach in der Fiktion oft die grössere Wahrheit stecke als in den Fakten.
Zu seiner eigenen Stimme fand Thompson schliesslich über den Journalismus: Als Reporter mochte er sich immer weniger auf die Rolle des Beobachters beschränken, sondern brachte sich ins Geschehen ein, mitsamt seiner ganzen Exzentrik (amerikanisch: Gonzo). Er berichtete nicht nur über die gesellschaftlichen Umwälzungen im Amerika der 1960er- und 70er-Jahre, sondern wurde selbst ein Teil davon und nahm dabei kein Blatt vor den Mund: Richard Nixon bezeichnete er schon Jahre vor der Watergate-Affäre als verlogenes Schwein, als veritablen Teufel.
Skeptiker und Sprachrohr
Thompson war laut, exzentrisch, er wurde ein Sprachrohr der amerikanischen Gegenkultur, schrieb sich in Rage, in einen Rausch, wurde geliebt, gefürchtet, gehasst. Mit seinen furiosen Texten rüttelte er aber nicht nur am Fundament des Establishments, er begegnete jeglichen Luftschlössern und Träumereien mit Skepsis, betrachtete die grosse Freiheit als Lüge, den amerikanischen Traum als gescheitert, wie im bekanntesten Werk nachzulesen ist: «Fear And Loathing in Las Vegas», erstmals im «Rolling Stone» veröffentlicht und 1998 von Terry Gilliam brillant verfilmt. Eine Geschichte voller Exzesse, Ekstase, Ernüchterung. Johnny Depp schlüpfte mit Haut und Haaren in die Hauptfigur Raoul Duke, ein Alter Ego von Hunter S. Thompson. Depp tat dies umwerfend komisch, spielte wahnsinnig stark und stark wahnsinnig. Genial.
Männerfreundschaften
Kein Zufall. Depp bewunderte den Schriftsteller, hatte ihn erstmals 1994 aufgesucht. Ein gemeinsamer Freund arrangierte ein Treffen in Thompsons Dorfkneipe in den Hügeln von Colorado: «Wenn du Hunter kennenlernen möchtest, dann komm um Mitternacht zur Taverne von Woody Creek.» Depp fuhr hin, nahm Platz, wartete. Und wartete. «Um 1.30 Uhr knallte es, die Tür schwang auf, Funken sprühten, die Gäste vor mir warfen sich zur Seite und brachten sich in Sicherheit», erinnert sich Depp. «Eine Stimme rief: ‹Aus dem Weg, ihr Bastarde!›, und ein Mann schritt auf mich zu, in seinen Händen: elektrische Viehstöcke.»
Die Begegnung elektrisierte Depp nachhaltig. Sie markierte den Beginn einer grossen Männerfreundschaft. Regelmässig besuchte der Schauspieler den Schriftsteller und trug massgeblich dazu bei, dass Thompson von der Masse (wieder-)entdeckt, ja, dass «The Rum Diary» überhaupt veröffentlicht wurde.
Prequel zu «Fear and Loathing in Las Vegas»
1998 entdeckte Depp in Thompsons Keller das alte Manuskript, war begeistert, drängte ihn, das Frühwerk zu veröffentlichen. Und versprach ihm noch vor seinem Tod (2005), den Roman auf die Leinwand zu bringen. Man kann den Film als Prequel zu «Fear and Loathing …» betrachten: Denn auch wenn Thompson seine Hauptfiguren nicht nach sich selbst benannt hat, tragen sie autobiografische Züge. In beiden Filmen fängt die Kamera Erlebnisse eines Reporters ein.
Zehn Jahre, bevor sich Thompson auf den Trip nach Las Vegas begab – oder besser gesagt auf vielen Trips durch Las Vegas halluzinogierte – landete er in Puerto Rico. Flucht in die Karibik, nachdem er in seiner Heimat nicht vom Fleck gekommen war. Jung, unerfahren, neugierig. Der Schriftsteller sah mit eigenen Augen vieles, was sein Protagonist im Roman «The Rum Diary» erlebt: Säufer auf einer Redaktion, Käufer auf geheimen Treffen. Investoren. Korruptionen. Kommunisten. Kapitalisten. «Du wirst bezahlt dafür, dass der Traum nie aufhört», wird ihm klar. Das mag der junge Journalist mit moralischem Anspruch nicht akzeptieren – und kämpft zugleich mit seiner Schwäche für Verlockungen.
Viel von allem – und doch zuwenig
Depp dreht in «The Rum Diary» weniger auf: Zum einen, weil Thompson in der Romanvorlage noch seine eigene Stimme suchte. Zum anderen, weil Regisseur Bruce Robinson zwar schöne Bilder eingefangen hat, aber diese nicht darüber hinwegtäuschen können, dass zu viele lose Stränge zusammengeknüpft wurden. Die Ladungen an Action und Kitsch, Moral und Männertum, Reisebildern und Rauschmitteln ermüden hier auf Dauer. Da ist von allem viel – und für einen packenden Film doch zu wenig.
Wohlwollend formuliert, mag «The Rum Diary» als Warm-up für «Fear And Loathing in Las Vegas» durchgehen. Doch Letzterer ist abgedrehter und überdrehter, Entwicklungen, die sich in «The Rum Diary» erst andeuten: Bei einer ersten LSD-Erfahrung macht Kemp die luzide Erkenntnis: «Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das behauptet, einen Gott zu haben – und auch das einzige, das sich verhält, als gäbe es keinen.»
Der Zuschauer ahnt, dass auf all den Rum, der fliesst, am Ende der Ruhm folgt, dass Kemp – wie der leibhaftige Thompson – dem Establishment die Masken vom Gesicht reisst und ihre Fratzen sichtbar macht. Indem er etwa sein Leben lang die Verlogenheit von Richard Nixon anprangert – und zahlreiche US-amerikanische Wahlkämpfe begleitet. Die Wahl Obamas hat der desillusionierte Thompson nicht mehr miterlebt. Ob er von einer Erfüllung des amerikanischen Traums geschwärmt hätte? Man darf es bezweifeln.
«The Rum Diary» kommt am 13.9. ins Kino.
Explosiv bis in den Tod
(Bild: Ernie Leyba)
«Es ist immer besser, aus einer Kanone abgeschossen als aus einer Tube rausgequetscht zu werden.» Mit solchen Worten umschrieb Hunter S. Thompson seinen explosiven Schreib- und exzessiven Lebensstil. Er liebte den knalligen Auftritt. Als der Waffennarr im Juli 2000 seine Assistentin verwundete, erklärte er danach lapidar: «Ich hielt sie versehentlich für einen Bären.» Im Februar 2005, Thompson war 67 («das sind 17 Jahre mehr, als ich brauchte oder wollte»), griff der gesundheitlich angeschlagene Journalist zum letzten Mal zur Feder – und dann zur Flinte. Seinem letzten Willen entsprechend wurde Thompsons Asche mit einer Rakete in die Luft geschossen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12