«Franz Meyer war ein Schlitzohr»

Nach der Abstimmung flog der Fotograf Kurt Wyss zu Pablo Picasso. Eine Erinnerung an einen nicht alltäglichen Besuch.

Fotograf Kurt Wyss lässt sich mit einem selbst gemachten «Picasso» fotografieren. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Nach der Abstimmung flog der Fotograf Kurt Wyss zu Pablo Picasso. Eine Erinnerung an einen nicht alltäglichen Besuch.

Am Montagmorgen nach der Volksabstimmung über den Ankauf zweier Gemälde von Pablo Picasso aus der Sammlung Rudolf Staechelin durch die Stadt Basel, dem 18. Dezember 1967, sassen die Redaktoren der «National-Zeitung» ratlos an ihrem Sitzungstisch. Keiner in dieser Runde hatte erwartet, dass die Abstimmung gewonnen werden würde. «Wir hatten uns im Vorfeld für ein Ja starkgemacht, waren aber alle davon überzeugt gewesen, in Schönheit unterzugehen», erinnert sich der Basler Fotograf Kurt Wyss, der damals als Ressortleiter der Bildredaktion waltete. Der Kommentar sei bereits vor der Abstimmung geschrieben gewesen, mit dem Titel: «Es hat nicht sollen sein.» Und so freute man sich einerseits in der Redaktorenrunde über das unerwartete Ja des Stimmvolkes, grübelte andererseits aber über ein passendes Anschlussprogramm nach, an das man bis dahin keinen Gedanken verschwendet hatte – so überzeugt war man vom Scheitern gewesen.

So kam es zur Idee, Picasso einen Besuch abzustatten und ihn in einem Interview zu dieser doch ungewöhnlichen und weltweit beachteten Abstimmung zu befragen. Ein gewagter Plan. Denn der spanische Maler war damals 86 Jahre alt und lebte in einem Weiler in Südfrankreich in selbst gewählter Isolation. Journalisten hatte er schon lange keine mehr empfangen. Trotzdem setzten sich Fotograf Wyss und der Journalist Bernhard Scherz sofort ins Flugzeug nach Nizza. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. In der Tasche hatten sie einen Empfehlungsbrief des Feuilletonchefs Hans Rudolf Linder, «damit wir was vorzuweisen hätten», erzählt Kurt Wyss.

Am Flughafen in Nizza stiegen Scherz und Wyss in ein Taxi, das sie nach Mougins chauffierte, einer kleinen Ortschaft nördlich von Cannes. Sie bezogen ein Hotel und machten sich auf den Weg in den benachbarten Weiler Notre-Dame de Vie, in dem Picasso seit 1961 zurückgezogen lebte. «Wir klingelten, ein Butler öffnete die Tür, wir brachten unser Anliegen vor und drückten ihm den Brief in die Hand», erzählt Wyss. «Er wollte ihn weiterleiten, und wir sollten am nächsten Tag um elf Uhr wiederkommen.»

Der Brief gelangte wohl in die Hände von Picassos Ehefrau Jacqueline. Denn als das Journalistenduo am nächsten Morgen zu Fuss unterwegs zu Picassos Villa war, bremste plötzlich eine Limousine neben ihnen. «Das Fenster ging herunter und Jacqueline Picasso blickte hinaus», so Wyss. «Sie fragte, ob wir die ‹messieurs de Bâle› seien, wir bejahten, und sie meinte: Kommen Sie um vier Uhr, Sie werden eine schöne Überraschung erleben.» Das Fenster ging rauf, die Limousine fuhr weg.

Ein unerwarteter Gast

Um vier Uhr tauchten Wyss und Scherz wie verlangt wieder an der Villa­pforte auf. Der Butler empfing sie und führte sie direkt in ein Atelier. Dieses war nicht nur mit Kunstwerken vollgestellt, sondern es befand sich auch eine Person darin. Nicht der Hausherr allerdings, wie man hätte erwarten können, sondern der Direktor des Basler Kunstmuseums, Franz Meyer. «Meyer drehte sich um, wohl in der Erwartung Picassos – stattdessen erblickt er uns zwei junge Schnuu­deri», erzählt Wyss mit einem Lachen. Allerdings kannte Meyer die beiden Reporter – schliesslich hatten sie sich im Vorfeld der Abstimmung genügend für den Ankauf der beiden Bilder exponiert.

Picasso, bekennender Kommunist, hatte von der Abstimmung gehört und sich nach dem Ja derart über diese demokratisch zustande gekommene Liebesbekundung gefreut, dass er der Stadt Basel zwei weitere Gemälde und eine Skizze zu einem der berühmtesten Picasso-Werke, «Les Demoiselles d’Avignon», zum Geschenk machen wollte. Die Bilder, so erzählt Kurt Wyss, wollte Picasso ausdrücklich der «Jeunesse de Bâle» schenken, die für seine Kunst auf die Strasse gegangen war: «Er betonte das mir gegenüber, drehte sich zu Franz Meyer um und sagte: ‹Et pas aux fonctionnaires d’état!› Was Meyer mit Grandezza zur Kenntnis nahm.»

Einerseits vermachte Picasso dem Kunstmuseum an diesem Tag das Ölgemälde «Homme, femme et enfant» von 1906, weil er dachte, es würde gut in die Basler Sammlung passen, die er offenbar gut kannte, und auch zu «Les Deux Frères», einem der beiden Gemälde aus der Staechelin-Sammlung. Franz Meyer war an jenem Dienstag also da, um dazu noch ein Bild aus der aktuellen Produktion auszuwählen. Picasso hatte ihm dazu eine Auswahl zusammengestellt.

«Franz Meyer war ein Schlitzohr», erzählt Kurt Wyss. «Er konnte sich nicht entscheiden zwischen zwei Bildern.» Und zögerte so lange, bis Jacqueline Picasso sich einmischte und meinte, ihr Mann solle Meyer doch beide Bilder geben – schliesslich gehörten sie ja sowieso zusammen. «Picasso nickte nur mit dem Kopf.» Dass die Stimme der 40-jährigen Ehefrau viel Gewicht hatte, zeigte sich auch in der folgenden Diskussion, als es da­rum ging, die beiden neu geschaffenen Gemälde mit Titeln zu versehen. «Deux Figures, Un Verre», schlug der Meister für das eine vor. Seine Frau und Meyer aber sagten Nein, und so kommt es, dass sich im Kunstmuseum Basel nun ein Gemälde namens «Le Couple» befindet. «Vénus et l’Amour» heisst das andere.

«Während der ganzen Diskussion um Titel blieb Picasso zurückhaltend und nett», erinnert sich Kurt Wyss. «Als Meyer dann aber wissen wollte, wie man die Bilder zu präsentieren habe, war er auf einen Schlag hellwach. Die Bilder sollten so wirken, wie sie sind, meinte er. Höchstens durch schmale Latten eingefasst. Aber keine Rahmen.» Meyer hielt sich an den Wunsch Picassos, und auch heute noch präsentieren sich die Gemälde schlicht gerahmt – zu schlicht für den aktuellen Kunstmuseumsdirektor Bernhard Mendes Bürgi offenbar. Im Zuge der Vorbereitungen für die kommende Picasso-Ausstellung wollte er die Bilder rahmen lassen – liess dann aber, an den Wunsch des Künstlers erinnert, wieder von der Idee ab.

Ein eitler Künstler

Im Wohnzimmer des Künstlers tranken im Dezember 1967 die Picassos, Meyer, Wyss und Scherz nach getaner Arbeit zusammen noch einen Whisky. Ein guter Moment, um das Wesen des grossen Künstlers etwas zu ergründen – und für einen Fotografen ein Traumjob. Wyss dokumentierte den gesamten Besuch. Nur zehn Minuten musste er Pause machen, dazu aufgefordert von Jacqueline Picasso, die in dieser kurzen Zeit dafür sorgte, dass ihr Mann sich in einen Sessel setzte. «Picasso hätte sich nie vor laufender Kamera hingesetzt», sagt Wyss. «Dazu war er zu eitel. Als er dann aber sass, durfte ich weiterfotografieren.» Man plauderte noch etwas, über die Stadt am Rhein, die Picasso gut kannte und schätzte, über Kunst und Fotografen. Dann machten sich die Basler wieder auf den Weg, der Kunstmuseumsdirektor ins Hotel, die Reporter auf die Suche nach einer Möglichkeit, ihre News zu den Basler Lesern zu bringen.

Die Nachricht von Picassos Schenkung erreichte auch Maja Sacher-Stehlin, die spontan beschloss, dem Kunstmuseum ebenfalls ein Picasso-Bild aus der eigenen Sammlung zu vermachen, das kubistische Gemälde «Le Poète» von 1912. Der Legende nach soll sie es eigenhändig zu Hause abgehängt und ins Museum getragen haben.

Die Basler Regierung überlegte sich zeitgleich, wie man Picasso für sein grosszügiges Geschenk danken könnte. Auf eine Idee des Grossratspräsidenten Jules Goetschel hin entschied man, Kurt Wyss zu beauftragen, die Geschehnisse rund um die Abstimmung zusammenzustellen. Es entstand ein Buch aus Fotografien, Zeitungsausschnitten, Abstimmungszetteln und allen möglichen anderen Dokumenten, ein Unikat, das man schliesslich an Picasso sandte. Für Maja Sacher-Stehlin fertigte Wyss auf ihren Wunsch hin dann ein zweites Exemplar an, das sich nur in Details vom Picasso-Exemplar unterschied. Und ein drittes Buch schuf Wyss als Erinnerung für sich selber.

Das Sacher-Album wird das Kunstmuseum im Frühling in der Ausstellung präsentieren. Das Exemplar, das man Pablo Picasso sandte, befindet sich heute verschollen irgendwo in seinem Nachlass. Der Künstler hat es weder der Stadt noch Kurt Wyss je verdankt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18.01.13

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