Die Cembalistin Nicoleta Paraschivescu erzählt im Interview von der Wiederentdeckung der Mozart-Zeitgenossin Marianna Martines und weshalb nur wenig Musik von Komponistinnen aus dem 18. Jahrhundert überliefert ist.
Marianna Martines (1744–1812) zählt derzeit noch zu den Unbekannten der Musikgeschichte. Die Wienerin war Schülerin Joseph Haydns und zu Lebzeiten hoch angesehen. Nicoleta Paraschivescu hat einige von Martines‘ Werken wiederentdeckt und gemeinsam mit ihrem Ensemble «La Floridiana» und der Sopranistin Nuria Rial eine hochgelobte CD-Einspielung vorgelegt. Nun plant sie ein neues CD-Projekt mit der Sängerin Anna Bonitatibus und mit Spätwerken der Komponistin. Am Samstag wird das Programm in der Basler Leonhardskirche zu hören sein. Wir sprachen mit der gebürtigen Rumänin und langjährigen Wahlbaslerin, was es mit Marianna Martines auf sich hat.
Werke von Marianna Martines – Meisterin der Wiener Klassik: Samstag, 29.6.2013, 19.30 Uhr,
Leonhardskirche, Basel.
Anna Bonitatibus, Mezzosopran
Nicoleta Paraschivescu, Cembalo
Ensemble «La Floridiana»
Nicoleta Paraschivescu, wie sind Sie auf Marianna Martines gestossen?
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich zum ersten Mal ein Werk von ihr sah: Robert Gjerdingen, mein Doktorvater am Orpheus Institut in Gent, veranstaltete einen Kurs über galante Schemata und brachte Cembalosonaten von Marianna Martines mit. Ich war überrascht: Diese Stücke sind sehr raffiniert komponiert, man kann sie nicht einfach ab Blatt spielen. Diese Frau konnte wirklich ausgezeichnet Cembalo spielen.
Wieso hat Sie das überrascht? Weil es wenig gute Musik von Frauen aus dieser Zeit gibt?
Ich war überrascht, weil ich sie bis dahin nicht kannte. Dass nur wenig Musik von Frauen aus dem 18. Jahrhundert im heutigen Konzertleben präsent ist, hat ganz andere Gründe.
Welche?
Es gibt heute viele Vorbehalte gegenüber Komponistinnen aus dem 18. Jahrhundert, weil sie Dilettantinnen waren. Doch diese Bezeichnung ist nicht wertend, der Begriff «diletto» deutet darauf hin, dass eben zur «Ergötzung» oder zum «Erheitern» musiziert wurde. Der Berufsstand des Komponisten war einfach ein anderer als heute.
Wie sah er denn aus?
Im 18. Jahrhundert war Komponieren ein Handwerk. Wenn man gut darin war, bekam man eine Anstellung an einem Hof, konnte angesehen und bekannt werden.
Eine Frau wie Marianna Martines konnte diesen Beruf nicht anstreben?
Sie hatte es nicht nötig in ihrem Stand. Martines war eine Adlige.
«Martines hat sich dezidiert in der italienischen Tradition verortet.»
Wie ist sie dann überhaupt zum Komponieren gekommen?
Zunächst einmal war es üblich, dass Töchter aus höherem Hause eine Ausbildung erhielten – in musischen, aber auch in literarischen Fächern. Martines sprach sehr viele Sprachen und hat sich auch als Übersetzerin einen Namen gemacht. Doch in der Musik hatte Martines besonders gute Lehrer. Sie wohnte mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in Wien gemeinsam mit Metastasio in einem Haus, dem berühmtesten Librettisten jener Tage. Metastasio gilt als Martines Mentor; er hat ihr die Türen zu den besten Lehrern Wiens geöffnet: Nicola Porpora etwa, Johann Adolph Hasse, Giuseppe Bonno und der junge Joseph Haydn. Sie alle müssen erkannt haben, wie begabt dieses Mädchen war und haben sie unterrichtet.
Hört man ihren Werken an, wer ihre Lehrer waren?
Zum Teil. Gerade in den frühen Werken hört man stark den italienischen Einfluss ihrer Lehrer. Martines hat sich dezidiert in der italienischen Tradition verortet. In den späten Werken begegnen einem viele harmonische Wendungen, die auch bei Haydn und Mozart vorkommen.
Was macht das Italienische in ihrer Musik aus?
Ihre Musiksprache ist sehr elegant, wahnsinnig poetisch im Melodischen. Es hat immer eine tolle Oberstimme, interessante kontrapunktische Ansätze, viele harmonische Wechsel. Auch in den Kantaten ist die Singstimme sehr ausgeziert. Zum Beispiel die Kantate «Il nido degli amori» von 1783, die wir auch am Samstag aufführen. Der Titel heisst soviel wie «Ein Nest für kleine Amörchen», für die Liebe. Dort hört man das hohe Zwitschern der Vögel, den Donner, das Rauschen der Blätter – es ist sehr bildliche Musik. Und sehr gesanglich. Man spürt, dass sie auch Sängerin war.
Sängerin, Cembalistin, Komponistin – was war Marianna Martines in erster Linie?
Ich glaube, sie hatte in allen drei Bereichen einen grossen Ehrgeiz, gut zu sein. Es gibt eine wichtige Quelle: Der berühmte Musikgelehrte Charles Burney schreibt in seinen Tagebuch einer Musikalischen Reise von 1772, Marianna Martines sei die vollkommenste Sängerin, die er jemals gehört habe. Er rühmte ihre meisterhafte Art am Cembalo und lobte die wohlverstandene Manier ihrer Kompositionen. Am nächsten Tag besucht Burney Martines‘ Gesangslehrer Johann Adolph Hasse, erzählt begeistert von seiner Begegnung mit ihr. Da klagt Hasse, Martines komponiere zu viel – die gebückte Haltung beim Aufschreiben der Noten krümme den Brustkorb; deshalb könne sie die hohen Töne nicht mehr singen!
«Die meisten Kompositionen, ihre Kantaten, Sinfonien, Cembalokonzerte, wurden in ihrer privaten Akademie aufgeführt.»
Ihre erste CD mit frühen Werken von Marianna Martines haben Sie mit der Sopranistin Nuria Rial eingespielt. Nun stehen ältere Werke auf dem Programm; die Sängerin hat eine tiefere Stimmlage: die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus. Hatte Hasse etwa recht, hat Martines später tiefer komponiert, damit sie ihre Werke selbst singen konnte?
Ich glaube, die Stimmlage hat sich ganz natürlich verändert im Laufe des Lebens. Zudem gab es damals keine so strenge Trennung zwischen Sopran und Mezzo wie heute. Ihre Kantaten, die wir am Samstag aufführen, liegen zwar tief, doch die Sängerin muss in der Höhe sehr agil sein. Es hat wahnsinnig viele Koloraturen darin. Ich bin sehr glücklich, dass wir Anna Bonitatibus dafür gewinnen konnten.
Wo wurden Martines‘ Kantaten im 18. Jahrhundert aufgeführt?
Man weiss, dass sie viel kirchliche Gebrauchsmusik für die Michaelerkirche in Wien schrieb, neben der sie wohnte. Die meisten Kompositionen, ihre Kantaten, Sinfonien, Cembalokonzerte – und wahrscheinlich viel Musik, die verschollen ist – wurden aber in ihrer privaten Akademie aufgeführt.
Was waren das für Zusammenkünfte?
Musikalische Zirkel, in denen sich Adlige, Intellektuelle, Politiker und Liebhaber trafen. Dort wurde musiziert, diskutiert, politisiert. Deshalb sind Martines‘ Werke auch meist kammermusikalisch, einzeln besetzt. Man darf nicht vergessen, dass Wien damals zwar eine wichtige europäische Musikmetropole war, dass es aber noch keine öffentlichen Konzertreihen wie etwa in London oder Paris gab.
Wenn Marianna Martines so viel komponiert hat, weshalb ist heute nur wenig überliefert?
Einzelne ihrer Werke sind sehr verbreitet, etwa die Motette, mit der sie sich bei der prestigeträchtigen Accademia Filarmonica in Bologna bewarb. Nach einem aufwendigen Prüfungsverfahren wurde sie 1773 aufgenommen – als erste Frau überhaupt. Das war eine unglaubliche Ehre! Drei Jahre davor wurde auch Wolfgang Amadeus Mozart aufgenommen. Martines‘ Bewerbungs-Motette wurde sehr häufig abgeschrieben und findet sich heute in vielen Bibliotheken in ganz Europa.
«Sie konnte es sich leisten, nicht zu heiraten, denn dies hätte sie vermutlich stark eingeengt.»
Sie wurde nicht gedruckt?
Nein, das war den Handwerkern, den Komponisten vorbehalten. Schauen Sie sich doch die Widmungsträger der Drucke Joseph Haydns an, und den ganzen Aufwand, mit dem dort die Widmungen eingetragen sind. Das waren alles Geldgeber für Haydn. Martines hatte so etwas gar nicht nötig.
Führte sie ein frauentypisches Leben?
Für eine Adlige war es nicht untypisch. Sie konnte es sich leisten, nicht zu heiraten, denn dies hätte sie vermutlich stark eingeengt. So konnte sie sich ganz ihrer Musik widmen. In ihrem kurzen Lebenslauf schreibt sie, sie bemühe sich jeden Tag, die alten Meister zu studieren und zu komponieren.
Musik von Frauen, auch aus der Barock- und Klassikzeit, wird in den letzten Jahren gezielt gefördert. Ist die Wiederentdeckung der Musik Marianna Martines‘ einer nachträglichen Frauenquote zu verdanken?
Diese Bewegung hat ja schon viel früher begonnen. Mich hat es nie sonderlich interessiert, einfach auf dieser «Welle» mit zu schwimmen. Natürlich beschäftige ich mich gerne mit dem Kontext, ich möchte verstehen, unter welchen Bedingungen im 18. Jahrhundert komponiert wurde. Aber ich möchte die Frauen nicht nur als Opfer darstellen. Sie hatten damals einfach eine andere Rolle in der Gesellschaft. Bei Marianna Martines überzeugt mich die Qualität ihrer Werke. Es lohnt sich, sie gut aufzuführen, damit sie wieder einen Platz im Musikleben bekommt.