Freispruch oder Knast? Hamlet und die Rechtssprechung vor Gericht

Hamlet, der bekannteste Mörder der Theatergeschichte, muss sich am Dienstagabend in der Kaserne Basel echten Basler Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern stellen.

Wenn das Theater den Kunstraum durchbricht: Echte Strafgerichts-Protagonisten machen Hamlet den Prozess. (Bild: Pierre Abensur)

Hamlet muss sich in der Kaserne Basel echten Basler Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern stellen: Yan Duyvendak und Roger Bernat hinterfragen in ihrem Bühnenprojekt «Please, Continue (Hamlet)» damit den Absolutheitsanspruch von institutioneller Gerechtigkeit.

Rechtssprechung ist eines der Lieblingsthemen im Film und auf der Bühne. Gerichtsfilme – wie etwa Sidney Lumets «Die zwölf Geschworenen» – gehören zu den grossen Klassikern der Leinwandkultur. Und auch im Theater gehören Stücke, die im Gerichtssaal spielen – etwa Kleists «Der zerbrochene Krug» oder Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» – zu den beliebtesten Spielplanpositionen.

Auch Hamlet strebt nach Recht und Gerechtigkeit. Als Ankläger und Untersuchungsrichter in eigener Sache versucht er, den Mord an seinem Vater aufzuklären und zu rächen – was bei Shakespeares gleichnamigen Stück bekanntlich nicht gut ausgeht und einige Todesopfer fordert. Zum Beispiel Polonius, den Ratgeber des Königs, der von Hamlet erdolcht wird.

Für diese Tat wird der Prinz im Bühnenprojekt «Please, Continue (Hamlet)» des in Genf und Marseille lebenden niederländischen Theater- und Performancekünstlers Yan Duyvendak und des katalanischen Regisseurs Roger Bernat in der Kaserne Basel vor Gericht gestellt. Die berühmte Frage um Sein oder Nichtsein wandelt sich so zur Entscheidung Knast oder nicht Knast.

Theater zwischen Fiktion und Realität

Damit ist aber erst ein kleines Detail über die Produktion erzählt, die die Grenzen des Kunstraums Theater auf hintersinnige und zugleich höchst aufschlussreiche Art und Weise durchbricht. Duyvendak und Bernat geht es nur in zweiter Linie um den fiktiven Mordfall, den sie übrigens mit einem echten, vom Tathergang ähnlich abgelaufenen Fall aus dem Elendsmilieu in Marseille durchmischt haben. «Uns interessiert in erster Linie, wie das Gericht oder die Gerichte diesen Fall verhandeln und zu welchen Urteilen sie gelangen», sagt Duyvendak.

Deshalb spielen die Shakespeare-Figuren Hamlet, seine Mutter Getrude sowie seine Verlobte (und Nebenklägerin) Ophelia, die von Schauspielerinnen und einem Schauspieler verkörpert werden, lediglich eine Nebenrolle. Die Hauptrolle ist dem Gericht zugedacht, einem Gericht mit wirklichen Richtern, Staatsanwälten, Strafverteidigern, Gerichtsweibeln und psychiatrischen Gutachtern.

Höchst unterschiedliche Urteile

Auch die Zuschauerinnen und Zuschauer können sich nicht einfach unbeteiligt zurücklehnen: Eine per Losentscheid ausgewählte Gruppe muss am Schluss als Geschworenengremium das Urteil fällen.

Yan Duyvendak

Yan Duyvendak (Bild: Nicola Spühler)

Basel ist bei Weitem nicht die erste Station, in der das Projekt gespielt oder besser als Versuchsanordnung installiert wird. Duyvendak und Bernat haben ihr Projekt mittlerweile fast 120-mal in neun verschiedenen Ländern durchspielen lassen – mit höchst unterschiedlichen Resultaten beziehungsweise Urteilen. Die Palette reicht vom Freispruch bis zu zehn Jahren Gefängnis.

Dabei konnte Duyvendak ziemlich markante geografische Unterschiede feststellen: «Je weiter im Norden Europas das Gericht ist, umso öfter kam es zu Freisprüchen, während die Gerichte in südlichen Ländern um einiges strengere Urteile fällten», sagt Duyvendak. Er hat aber auch erleben können, dass der Fall Hamlet an Ort und Stelle zu unterschiedlichen Urteilen geführt hat: «Wir haben den Fall in Lyon elfmal verhandeln lassen, dreimal wurde er für schuldig erklärt.»

Gerichtliches Nord-Süd-Gefälle

Auch sonst hat Duyvendak länderspezifische Unterschiede entdeckt: «In Italien beispielsweise sind die Gerichte viel politischer als in Deutschland, wo die Fälle auf höchst nüchterne und trockene Art behandelt werden», sagt er. Das gilt auch für die Dramaturgie der Fälle: «In Italien spielt die mündliche Befragung zum Beispiel von Zeugen eine wesentlich wichtigere Rolle als in Deutschland, wo sich die Gerichte stärker nach den schriftlichen Akten richten.»

Und in der Schweiz, genauer in der Deutschschweiz? Das Projekt wurde vor anderthalb Jahren am Zürcher Theaterspektakel durchgespielt. «In Zürich, das habe ich nirgendwo sonst erlebt, ging es in erster Linie oder fast nur ums Geld, das war auffällig», erinnert sich Duyvendak.

Relatives Prinzip der Gerechtigkeit

Das Theater demonstriert also, dass das Strafrecht keine exakte Wissenschaft ist und das Streben nach Gerechtigkeit zu unterschiedlichen Resultaten führen kann. Damit steht das Medium Theater nur wenig der wissenschaftlichen Forschung nach, die den absoluten Gerechtigkeitsanspruch der Rechtssprechung ebenfalls hinterfragt. Wie eine Studie der Basler Kriminologin Nadja Capus und der Zürcher Soziologin Franziska Hohl zeigt, hat selbst der Tonfall, in dem Verhörprotokolle abgefasst sind, einen Einfluss auf die Rechtssprechung.

Duyvendak, der die allermeisten Verhandlungen selber mitverfolgt hat, betont, dass er das Vertrauen in die Rechtssprechung totz unterschiedlichen Hamlet-Urteilen nicht verloren habe. Und dass er keines der Systeme bevorzugen möchte. Im Gegenteil: «Ich verstehe die Gerichtswelt immer besser, was mich auch toleranter gegenüber den Beteiligten werden liess», sagt er.

Nun ist also Basel an der Reihe. Erschwerend für das Gastspiel ist hier, dass die baselstädtische Strafprozessordnung anders als beispielsweise jene von Zürich zumindest in der Neuzeit nie ein Geschworenengericht kannte (gesamtschweizerisch wurde dieses Prinzip 2011 abgeschafft). Die Prozess-Profis müssen daher etwas improvisieren und differenzieren. Aber Duyvendak zweifelt nicht daran, dass sie den Fall mit der nötigen Ernsthaftigkeit angehen werden.

«Dass die Kunst unsere Institutionen hinterfragt, ist absolut sinnvoll», findet Strafgerichtspräsident René Ernst, der über Hamlet zu Gericht sitzen wird.

Mit von der Partie in Basel ist zum Beispiel der Strafgerichtspräsident René Ernst (SP). «Mich reizt an der Versuchsanordnung, dass sie zeigen kann, wie relativ die Herstellung und Gewährung von Gerechtigkeit ist», sagt er. Ein Strafprozess sei ein Prozess, an dem Menschen beteiligt seien. Und dadurch sei ein Fall nicht immer so leicht und plakativ zu beurteilen, wie dies in der Boulevardpresse oft wiedergegeben werde. Als Angriff auf die Justiz empfindet Ernst das Stück nicht: «Dass die Kunst unsere Institutionen hinterfragt, ist ein absolut sinnvoller und nötiger Akt», findet er.

Wie alle anderen Beteiligten der drei Basler Prozesse hat Ernst ausführliche Fallakten zugestellt bekommen. Auf einen Probedurchgang wird aber bewusst verzichtet, der Fall Hamlet soll möglichst realitätstreu behandelt werden. Auf ein Vorurteil lässt sich der Gerichtspräsident im Vorfeld natürlich nicht hinauslocken. «Laut Aktenlage ist beides denkbar», sagt Ernst, «ein Freispruch oder eine Gefängnisstrafe.»

Wer also einen der drei Basler Prozesse besucht, weiss nicht, was ihm blüht. «Hamlet» im Original ist spannend, nur wissen alle, dass die Tragödie im «Schweigen» endet. «Please, Continue (Hamlet)» kann oberflächlich vielleicht langfädig werden, wenn sich die professionellen Prozessprotagonisten wie in Zürich vornehmlich ums Geld streiten. Aber spannend wird es, weil man den Ausgang nicht kennt.


«Please, Continue (Hamlet)» von Yan Duyvendak und Roger Bernat. Kaserne Basel vom 20. bis 22. Januar 2015 (19 Uhr)

 

Nächster Artikel