Mit «Chowanschtschina» von Modest Mussorgski ist dem neuen Ensemble unter Intendant Andreas Beck ein opulenter, musikalisch hochstehender Saisonstart gelungen.
Russland. Ein Land von einer schier unvorstellbaren Grösse. Ein Land voller Gegensätze. Und ein Land mit einem undurchsichtigen Geflecht aus rivalisierenden Machthabern – damals wie heute.
Dass ausgerechnet eine so durch und durch russische Oper wie «Chowanschtschina» von Modest Mussorgski die erste Basler Spielzeit von Intendant Andreas Beck und Operndirektorin Laura Berman eröffnet, zeugt von Mut.
Ein gelungenes Wagnis
«Chowanschtschina» ist ein relativ unbekanntes, auch unbequemes Werk: Russisch ist eine klangschöne, aber schwierige Gesangssprache, die Handlung der Oper ist komplex, die musikalische Grundlage dieser Oper schwierig. Wie viele seiner Werke liess Mussorgski auch dieses Werk unvollendet – erhalten ist lediglich ein Klavierauszug. Seit Mussorgskis Tod 1881 wurden verschiedene Fassungen erstellt. Am Theater Basel erklang die Oper in der starken Orchestrierung von Dmitri Schostakowitsch, das fehlende Finale komponierte Igor Strawinsky.
Der Mut des neuen Leitungsteams zahlte sich jedoch aus: «Chowanschtschina» beglückte das Basler Premierenpublikum mit über drei Stunden süsser, dramatischer, schwelgender und brachialer Musik, mit opulenten Chorszenen und grossformatigen Bühnenbildern, mit theatralisch nachgezeichneten Bildern von Kriegs- und Flüchtlingsbildern, wie sie derzeit über alle Fernsehkanäle flimmern.
Auch Bojar Schaklowity (Pavel Yankowsky) spielt im folgenschweren Spiel um Macht und Intrige mit. (Bild: Simon Hallström)
Der erst 32-jährige russische Regisseur Vasily Barkhatov zeigte ein gutes Gespür für die herausfordernden Vorgaben der Oper. In jedem der fünf Akte wird in einem Standbild eine Szene gespielt; und Barkhatov behielt diese Szenerie bei.
Da sind zu Beginn die Soldaten der Truppen von Iwan Chowanski, die sich selbst zur ihren Morden beglückwünschen und die Leichen schwungvoll in einen Eisenbahnwagen zum Abtransport werfen (Ordnung muss sein, singen sie). Da ist das Volk, das sich an den Gleisen aufhält, auf den Zug wartet (oder auf ein besseres Leben). Da ist Chowanskis Sohn Andrei, der seine Geliebte Marfa für die blonde Unschuld Emma verlässt. Da ist der Geistliche Dossifei, der auch nach der Kirchenreform als Einziger zweifelsfrei weiss, wo es langgeht (zu Gott).
Da sind die rivalisierenden Truppen, die um die Herrschaftsansprüche kämpfen, da sind die europäischen Gedanken des machthungrigen Fürsten Golizyn, der sich von Marfa die Zukunft voraussagen lässt, da ist Susanna, fanatische Anhängerin der Altgläubigen und Assistentin von Dossifei, der sie plötzlich wie eine lästige Fliege fortjagt. Da sind Machtkämpfe auf allen Ebenen, und da ist rasende Eifersucht und Liebe, die Marfa von einem gemeinsamen Selbstmord mit Andrei träumen lässt – ein Traum, der schlussendlich durch den religiösen Eifer Dossifeis wahr wird.
Das Volk wendet sich vom Iwan Chowanski (Vladimir Matorin) ab. (Bild: Simon Hallström)
Barkhatov zeigt all diese Figuren mit scherenschnittartiger Einfachheit ohne doppelten Boden – doch gerade das macht deren Handeln wieder so eigenartig grausam. Marfa, die ihre Rivalin Emma einfach mit einem Kissen erstickt, während sie ihr ein Wiegenlied singt, ist da nicht anders als all die Männer, die jeden Konflikt mit einem Pistolenschuss beenden wollen.
Doch Barkhatov zeigt auch ein Volk, dass endlose Stunden, Tage, Wochen auf Bahnhöfen verbringt, auf Bahngleisen sich zum Sterben niederlegt. Ein Volk auf der Flucht, ein Volk, das niemals ankommt, ein Volk, dass nur im Glauben Trost findet – und schlussendlich unter Anleitung ihres religiösen Führers den kollektiven Selbstmord wählt.
Barkhatov hat einen langen Atem. Er schafft es, über die im Libretto von Wladimir Stassow so angelegten grossen, langen Szenen einen Bogen zu spannen. Vielleicht hätte er die Erzählebenen stärker gewichten können – Herrschaftsdisput und Eifersuchtsdrama standen etwas unvermittelt nebeneinander.
Wem gehört die Hauptrolle?
Vielleicht hätte er einzelne Personen stärker charakterisieren können – lediglich der alte Fürst Iwan Chowanski (stimmgwaltiger Bass: Vladimir Matorin) war ein deutlich ironisch gezeichneter Patriarch. Sein Sohn Andrei (passend zur Rolle stimmlich etwas fahl: Rolf Romei) kam als etwas arg schwächlicher Weichling daher, seine Verflossene Marfa (mit ihrem dunklen, warmen Alt brillierend: Jordanka Milkova) dafür als geheimnisvolle Diva, die ihren Einfluss auf die Männer immer wieder überraschend ausspielte.
Die Stosstruppen zeigten körperbetont ihren Testosteron-Überschuss und sangen darüber, wie sie «bis zu den Knöcheln im Blut» stehen, ohne dass nur ein einziger Tropfen Theaterblut diesen Abend besudelte. Der Geistliche Dossifei (mit tragendem Bass: Dmitry Ulyanov) predigte in Turnschuhen und Lederjacke – doch wer bei all diesen Personen die Hauptrolle innehatte, wurde selbst beim abschliessenden Schlussapplaus nicht deutlich.
Die Altgläubigen (Jordanka Milkova und Dmitry Golovin) bereiten sich auf den finalen Massenselbstmord vor. (Bild: Simon Hallström)
Dieser fiel ohne Buhrufe aus: Das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung des 38-jährigen ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits in ungemein sanften, warmen Farben schillerte und bei dramatischen Zuspitzungen nie die Sänger überdeckte, wurde euphorisch beklatscht. Ebenso der Chor, der seine zahlreichen Auftritte bis auf ein paar Farbtrübungen in den Sopranen mit Bravour meisterte. Das Inszenierungsteam wurde verhalten beklatscht – vielleicht war sich das Publikum noch nicht schlüssig über eine Inszenierung, die für einmal kein dezidiert modernes oder altmodisches, verkopftes oder sinnliches Konzept verfolgte, sondern diese wuchtige Oper mit exzellentem Handwerk reich bebildert, ohne sie zu verbiegen.
Angenehm zeitloser Mix
Die Videobilder (Yury Yarushnikov) zeigen immer wieder rasende Züge und trostlos leere Gleise, das Bühnenbild (Zinovy Margolin) zeigt moderne harte Betontreppen, eine sozialistische Bahnhofshalle und alte Waggons, die den Wagen der Nazis in die Konzentrationslager ähnelten. Und auch die Kostüme (Olga Shaishmelashvili) verbinden Gegensätze: Die Stosstruppen tragen Tarnanzüge der US-Army mit Kosakenhut und -umhang der gefürchteten Reitertruppen des 16. Jahrhunderts, kombiniert mit modernen Schutzpolstern deutscher Polizisten.
Mit solch einem zusammengewürfelten Outfit begegnen uns auch andere extremistische Kampftruppen in den TV-Nachrichten, und dieser Mix macht diese Inszenierung so angenehm zeitlos. All das ist Russland, all das sind auch andere Kriegsgebiete in der Welt, all das ist Vergangenheit und Gegenwart zugleich, all das ist grosse, romantische Opernkunst. Ein gelungener, fulminanter Saisonstart. Einer, der der Musik, den farbigen Bildern und dem Geschichtenerzählen mehr Gewicht verleiht als verkopften Regie-Konzepten.
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«Chowanschtschina», jetzt im Theater Basel.