Als Gregory Brunold im Jahr 2000 das «Kulturprojekt Nordstern» gegründet hat, war Housemusic noch tabu. 15 Jahre später gehört der «Nordstern» zu den renommiertesten Szene-Clubs Europas – und hat sich dafür von seiner Ursprungsidee verabschiedet.
Der «Nordstern» feiert dieses Jahr sein 15-jähriges Bestehen. Gregory Brunold ist Gründer und Besitzer vom Club. Der 42-jährige Basler hat Wirtschaft studiert und ist heute für das Personalwesen, die Event-Administration und das Nightmanagement im «Nordstern» zuständig. Im Interview blickt er auf eine bewegte Zeit zurück.
Gregory Brunold, vor wenigen Wochen hat der «Nordstern» seinen 15. Geburtstag gefeiert. Wie fühlen Sie sich dabei?
Wir haben den Geburtstag mit einer riesigen Party gefeiert, die von Freitagabend bis Sonntag ging – insgesamt waren das 36 Stunden. Ganz allgemein: 15 Jahre sind eine lange Zeit. Da ist schon sehr viel gegangen.
Sie stehen erneut vor einem grossen Event: das Air Festival in Weil am Rhein. Warum veranstalten Sie dieses Open Air ausgerechnet am Wochenende, an dem in Basel das Jugendkulturfestival stattfindet?
Der 5. September war der einzige Termin, an dem es keine andere, rein elektronische Veranstaltung gab. Es gibt von Jahr zu Jahr immer mehr Tages-Festivals. Unser Festival am gleichen Tag wie die «Streetparade» vom letzten Samstag oder der «Sea You» in Deutschland zu veranstalten hätte noch weniger Sinn ergeben.
Als Sie den «Nordstern» im Jahr 2000 gründeten, war das Club-Umfeld noch komplett anders als heute. Was führte dazu, einen Club zu eröffnen?
Ich war schon immer sehr musikinteressiert und veranstaltete damals Partys. 1993 habe ich die erste Indie-Party in der Kuppel organisiert und dabei selber aufgelegt. In den 1990ern waren diese Partys musikalisch noch sehr durchmischt: Wir konzentrierten uns auf die Independent-Szene aus England, also kleine Musik-Labels, die spannende Musik von Pop, Rock über härtere Musikstile wie Industrial, Grunge bis zu elektronischer Musik veröffentlichten.
Sie hatten also damals nicht vor, mit dem «Nordstern» einen Techno-Club zu eröffnen?
Nein, das hätte ich langweilig gefunden. Die Genres Techno und House waren zwar damals schon präsent – aber noch nicht so dominant wie heute. Damals gab es noch verschiedene Szenen und Bewegungen – das fand ich spannend. Da gabs eine Gothic- oder Indie-Szene, genau so wie eine Drum ’n‘ Bass- und eine Funk/BigBeats-Szene. Darum suchte ich einen festen Ort, wo man verschiedene Themen-Abende organisieren konnte. Die Location sollte unterschiedlichen Musikstilen, die damals im etablierten Basler Nachtleben kaum einen Platz hatten, eine Heimat bieten. Wir wollten Nischen bedienen und eine Alternative zum Bestehenden bieten.
Als Sie den «Nordstern» eröffnet haben, waren sie 26 Jahre alt. Hätten Sie zehn Jahre später, im Wissen um die grosse Verantwortung, die das Betreiben eines solchen Unternehmens mit sich bringt, den gleichen Schritt gewagt?
Schwierig zu sagen. Vor 15 Jahren ging es vor allem darum, einen Raum zu finden, wo man sich ausprobieren kann. Wir sprachen zu Beginn vom Kulturprojekt «Nordstern». Es ging also weniger um Partys, sondern viel mehr um Kreativität und verschiedene Kunstformen. Wir versuchten damals mit Künstlern, gestalterische Projekte in den Räumlichkeiten umzusetzen. Kunstprojekte und Rauminstallationen waren die Idee hinter dem «Nordstern». Schnell haben wir aber gemerkt, dass wir den Raum der Öffentlichkeit zugänglich machen mussten, auch um auf neue, interessierte Leute zu treffen, die ebenfalls einen Raum für ihre Projekte suchten. Der Freitagabend, als nicht offensichtlicher Party-Abend, bot sich dazu an. Mit der Zeit entwickelte sich der Freitag aber trotzdem zu einer Partynacht und wir mussten professionellere DJs verpflichten.
Und das war dann der Auftakt zum eigentlichen Club?
Nein, bis 2010 ging es tatsächlich noch um das Kulturprojekt «Nordstern» – der Club Nordstern kam erst vor fünf Jahren. Trotzdem kamen schon ab 2001 immer mehr Leute am Freitag in den Nordstern, um zu feiern. Der «Nordstern» war also freitags kein kreativer Übungsraum mehr, sondern ein Ort, wo wir etwas präsentieren wollten. So fingen wir an, DJs zu buchen.
«Je kommerzieller der Club wurde, desto klarer mussten Unternehmensstruktur und Strategie werden – auf Kosten der kreativen Freiheit.»
Früher war im «Nordstern» also alles etwas improvisiert. Vermissen Sie diese Zeiten?
Ja, ganz klar. Wir hatten zwar kein Geld und das Mobiliar kam aus dem Sperrgut, aber wir hatten dafür mehr Freiheiten und waren offen für alles. Ich vermisse das bunt durchmischte Publikum und die unterschiedlichen Szenen, die im «Nordstern» aufeinandertrafen. Es war ein sehr undefinierter Ort. Das Programm reichte vom Impronauten-Theater über das Funk-Konzert bis zur Goa-Trance-Party. Denn es ging nicht vorrangig um den Gewinn. Je kommerzieller der Club dann später wurde, desto klarer mussten die Unternehmensstruktur und die Strategie werden – auf Kosten der kreativen Freiheit.
Was wollte das Publikum in den 1990ern im Ausgang erleben? Worum ging es an Partys?
Ich glaube, dass die Freiheit tatsächlich ein sehr wichtiger Punkt war. Wir als Veranstalter konnten vieles ausprobieren. Aber auch das Publikum, wollte sich damals frei fühlen. Man bezahlte nicht Eintritt, um einen internationalen DJ zu sehen, sondern dafür, dass man sich frei bewegen konnte. Denn nachts gelten andere Regeln als tagsüber. Diese Freiheit, an einer Party ein anderer Mensch sein zu können wie im Büro, war damals noch viel wichtiger wie heute. Entsprechend kamen die Leute zum Teil auch verkleidet in den «Nordstern». Da gab es noch keine «Uniformierung» im Ausgang. Der «Nordstern» war kein Ort, an dem man sich den gesellschaftlichen Konventionen anpassen musste. Niemand zeigte mit dem Finger auf jemanden, der in irgendeiner Art und Weise auffiel.
Spielten Drogen eine Rolle?
Drogen waren damals wie heute sicher auch ein Thema an Partys. Es geht ja darum, dass sich viele am Wochenende anders fühlen wollen wie wochentags. Es geht um ein gewisses Ausbrechen und Vergessen des Alltags, in dem man in gewisse Strukturen eingebunden ist. Am Wochenende geht es nicht um Leistung, sondern es geht darum, einfach zu sein und zu geniessen. Drogen – und Alkohol – kommen da schon auch ins Spiel. Im Gegensatz zu heute, war die Einnahme von Drogen jedoch weniger selbstverständlich. Das Angebot war auch viel kleiner. Heute existieren viele verschiedene synthetische Drogen, die es damals noch nicht gab. Vieles ist über das Internet erhältlich. Die Hemmschwelle ist gesunken.
Worum geht es heute im «Nordstern»?
Es bleibt immer noch ein Ort, an dem man ausgelassen feiern und abschalten kann. Doch die Paradiesvögel von früher bleiben aus. Es geht weniger darum, etwas Spezielles zu erleben oder darum, den Abend mit einem speziellen Auftritt mitzugestalten. Heute möchte kaum noch jemand auffallen. Die Offenheit ist verloren gegangen. Das gilt ja auch für viele andere Bereiche unserer Gesellschaft. Vieles erscheint vereinheitlicht. Ausserdem geht es viel mehr um Konsum als um ein spezielles Erlebnis, an dem sich jeder auf seine Art beteiligen kann. Dieses «One Love»-Gefühl, das man früher an Raves erlebt hat, bleibt heute in einem grossen Club aus. Techno scheint heute in grossen Clubs einsam zu machen. Aber auch dies hängt mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Allgemeinen zusammen. Viele Leute vereinsamen heute eher als früher.
«Der ‹Nordstern› ist nicht unbedingt mehr ein Raum für Nischenmusik, sondern für angesagten Clubsound.»
Sie haben im Jahr 2010 einen Fünfjahresvertrag von den Vermietern erhalten. Spielte dies für die Weiterentwicklung des «Nordstern» eine Rolle?
Klar, nachdem die IWB uns zehn Jahre lang jeweils den Mietvertrag immer nur um ein Jahr verlängert hatten, kam plötzlich die Chance längerfristig planen zu können. Wir waren auch dank der Zusammenarbeit mit einem neuen Geschäftspartner in der Lage, zu investieren und wussten, dass sich diese Investitionen lohnen würden. Eine leistungsstarke Soundanlage leasen, ein Umbau der Räumlichkeiten vornehmen – all dies wäre nicht denkbar gewesen, hätten wir diesen Fünfjahresvertrag nicht erhalten.
Vor fünf Jahren haben Sie sich also dazu entschlossen, aus dem Kulturprojekt «Nordstern» den Club Nordstern zu machen. Als Partner haben Sie Agi Isaku an Bord geholt. Warum dieser Entscheid?
Agi Isaku hat vier Jahre lang als Fremdveranstalter im «Nordstern» mitgewirkt, so wie viele andere auch damals, unter anderem auch die Macher vom «Hinterhof». Agi Isaku und sein Team waren jedoch die einzigen, die ein professionelles Handling der Veranstaltungen vorweisen konnten. Dies ging von der Künstlerbetreuung über die Werbung bis hin zu einem stimmigen Programm. Sie waren vor allem auch die einzigen, die das Veranstalten von Partys als echtes Business betrachtet haben.
Inwiefern hängt der Erfolg des «Nordstern» auch mit der Kommerzialisierung der House- und Techno-Musik zusammen?
Heute gibt es praktisch keine andere Musikrichtung in den Clubs. Es gibt immer mehr Leute, die diese Musik mögen – und im Ausgang auch nichts anderes mehr erwarten. DJs sind so etwas wie Popstars geworden. Früher ging es wie gesagt weniger um den DJ als um die Musik, die gespielt wurde. Heute richten sich alle Blicke auf den DJ-Booth. Smartphones werden in die Luft gehalten, um Bilder und Videos zu machen oder um Tracks über Musiksuchmaschinen zu erkennen. Der «Nordstern» ist nicht unbedingt mehr ein Raum für Nischenmusik, sondern für angesagten Clubsound.
Filmen und Fotografieren ist in grossen Clubs wie im Berliner «Berghain» strengstens verboten – im «Nordstern» eigentlich auch. Warum?
Es ist ein Stimmungskiller, wenn sich alle mit ihrem Smartphone beschäftigen, anstatt zu tanzen und die Musik zu geniessen. Da verpasst man den Moment, um den es eigentlich geht. Ausserdem mögen es viele Gäste nicht, wenn sie an einer Party gefilmt oder fotografiert werden, um sich dann am Folgetag auf Facebook wiederzufinden. Und den DJ stört es auch beim Arbeiten, wenn er ständig ein Handy mit Blitzlicht vor die Nase gehalten bekommt.
«Früher dachte ich, ich könnte selber einen Markt und Bedürfnisse entwickeln. Heute ist das anders.»
Nach welchen Kriterien haben Sie vor 15 Jahren einen DJ ins «Nordstern» gebucht und worauf schauen Sie heute?
Damals ging es nur um die Liebe zur Musik. Wenn ein DJ und sein Sound mir persönlich gefallen hat, hab ich versucht, ihn zu bekommen. Ich hab weniger drauf geschaut, was andere dazu sagen und gehofft, dass es funktioniert. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich ich während meines Studiums gelernt habe. In der Marketinglehre hiess es immer, dass man drauf achten muss, was der Markt verlangt und sich danach richten. Früher hab ich das im «Nordstern» nicht gemacht, weil ich dachte, ich könnte selber einen Markt und Bedürfnisse entwickeln. Heute ist das anders. Es herrschen andere Verhältnisse – wir sind ein Unternehmen geworden, das markttauglich und gewinnbringend bleiben muss. Da kann man sich kaum mehr Experimente leisten.
Verdienen Sie mit dem «Nordstern» richtig Geld?
Man kann mit einem Club wie dem «Nordstern» viel Geld verdienen – das würde jedoch verlangen, dass jeder einzelne Abend erfolgreich läuft. Meist läuft es jedoch so, dass 20 bis 30 Prozent der Veranstaltungen finanziell nicht so funktionieren, wie man sich das erhofft. Und dann bleiben nur noch 70 Prozent der Veranstaltungen übrig, die Geld bringen. Bei all den Fixkosten, die ein Betrieb wie der «Nordstern» abverlangt, bleibt dann nicht mehr so viel Geld übrig. Zudem machen wir den Club immer noch aus Liebe zur Musik und legen keinen Wert auf bezahlte VIP-Bereiche und überteuerten Flaschenkonsum.
Bleiben wir beim Geld. Der «Nordstern» brüstet sich damit, eine der weltweit besten Soundanlagen bieten zu können. Was kostet das?
Wir haben ganz am Anfang vier alte Revox-Lautsprecher und zwei Verstärker aus privatem Fundus gehabt. Dann haben wir uns Schritt für Schritt mehr geleistet. Mehr als 8000 Franken für das Soundsystem lagen aber lange nicht drin. Jahre später kam dann irgendwann die Anlage, die heute in der «Kaschemme» steht, für die wir 30’000 Franken investiert haben. Heute sind alleine die Boxen eine Viertelmillion Franken wert, dazu kommen noch rund 80’000 Franken für die Raumakustik dazu. Kosten, die wir aber innerhalb von drei Jahren abzahlen konnten und die sich gelohnt haben. Denn es ist ein riesiges Kompliment, wenn DJs, die international touren, sich darauf freuen, im «Nordstern» spielen zu dürfen – nur weil sie hier einen vernünftigen Arbeitsplatz vorfinden mit einem Top-Soundsystem.
Warum gibt es eigentlich keine Konzerte mehr im «Nordstern»?
Finanziell ist das Risiko leider zu gross geworden. Der Aufwand für eine Band ist viel grösser als bei einem einzelnen DJ. Rund 30 Prozent der Konzerte haben sich finanziert. Der Rest war verlustbringend. Das Publikum blieb aus, und der Umsatz an der Bar war geringer als bei einer Party. Ich persönlich bedauere das sehr.
Eine einzige alte «Nordstern»-Veranstaltung hat überlebt: Crazy Diamond. Wie passt das zum heutigen «Nordstern»?
Seit 2001 gibt es die Crazy Diamond, die Disco für Menschen mit körperlicher, geistiger oder keiner Behinderung. Diese monatliche Partyreihe liegt mir sehr am Herzen. Die Freude, die diese Menschen einmal im Monat an einem Dienstag in zwei Stunden im «Nordstern» verbreiten, ist einzigartig. Hier ist die ursprüngliche Freiheit im «Nordstern» noch möglich und beliebt. Jeder kann tun und lassen, was er möchte. Und die Leute schätzen, was sie im Club bekommen. Das tut auch dem Club und dem Team gut, weil so frische Energie einfliesst.
Apropos neue Energie: Ende Jahr soll der «Nordstern» schliessen – noch gibt es keinen neuen Ort für den Club. Kommt nun die Zeit, in der Sie sich nach einem normalen Büro-Job sehnen?
Ich habe tatsächlich viel erlebt und gesehen in diesen 15 Jahren Clubwesen. Aber es ist für mich noch nicht der Punkt gekommen, an dem ich Schluss mache. Ich verspüre immer noch die Lust, als selbstständiger Veranstalter und Unternehmer Events zu organisieren. Das Nachtleben und die entsprechende Kultur finde ich nach wie vor spannend. Und ich würde gerne wieder einen Club eröffnen – ob das im gleichen Stil wie der «Nordstern» sein soll, kann ich noch nicht sagen. Aber auch im Alter von 42 Jahren habe ich genügend Energie etwas Neues aufzubauen, denn das Nachtleben hält mich jung (lacht).