Helvetia-Kunstpreis-Träger Dijan Kahrimanovic hat wildfremde Menschen angerufen und sich ihrem Willen unterworfen. Entstanden sind dabei 278 Porträts eines jungen Künstlers, der diesen Preis wahrlich verdient hat.
«Hallo, hier ist Dijan Kahrimanovic. Ich stehe vor einer Kamera und will ein Foto machen. Wie soll ich darauf aussehen?» In etwa so klang es, als sich Dijan Kahrimanovic vergangenen Monat quasi selbst auflöste. Er stand in seiner Wohnung, hinter ihm eine Wand, neben ihm eine prall gefüllte Garderobe. Er blickte in eine Kamera, hielt die Auslöser-Bedienung bereit und überliess sich wildfremden Menschen. Während drei Wochen hatte er 1764 Leute am Apparat, die er alle mit derselben Frage konfrontierte: Wer soll Dijan Kahrimanovic sein?
Erst einmal ist er nur eine Stimme: «Du wirst mich sofort erkennen», sagt der 26-Jährige ein paar Tage vor unserem Treffen ins Telefon und lacht. «Ich stelle um die 200 Selbstporträts aus.» Na toll, denke ich, diese Arbeit wird eine einzige Parade von Allgemeinplätzen sein: Ein Künstler mit Jahrgang 1990 – Kind der digitalen Selbstausbeutung und Vertreter einer narzisstisch-missratenen Generation – zeigt 200 Bilder von sich selbst, dem Helvetia-Kunstpreis-Träger.
278 Mal Ikea-Baumarkt
Doch zum Glück kommt alles anders: 278 Schwarzweiss-Bilder hängen dicht aneinander gehängt in einem gebogenen, fast sakral anmutenden Raum der Liste. Auf allen ist der gebürtige Bosnier zu sehen, mal in Pelz gehüllt, mal oben ohne, von hinten, von der Seite, in Gross- und Kleinansicht. Es ist überwältigend, fast erschlagend und hat etwas merkwürdig Übersättigendes. «Wie in einem Ikea-Baumarkt», wird der junge Künstler später sagen.
Jetzt betritt er den Raum. Schmaler und zurückhaltender als auf seinen Fotos sieht er aus, fast wie ein anderer Mensch. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Kahrimanovic von seiner Arbeit erzählt. Er redet von sich in der dritten Person, so als wäre diese Person auf all den Fotos gar nicht er selbst. «Bin ich ja eigentlich auch nicht», meint er, als ich ihn darauf anspreche. Die Kahrimanovics auf den Porträts sind Kreationen der 278 Menschen, die das Telefon nicht aufgelegt haben, als er ihnen sein Vorhaben unterbreitete.
Anweisungen vom Festnetz
Das Konzept des jungen Künstlers war einfach: Während drei Wochen wählte er irgendwelche Festnetznummern und bat die Menschen am Telefon um Anleitungen für seine Selbstporträts. Was soll er anziehen, wie soll er sich hin-, was soll er anstellen? Jegliche Entscheidung lag bei der Person am anderen Ende der Leitung. Erst wenn sie zufrieden war, drückte Kahrimanovic ab. Und legte dann auf. Dass er Künstler sei oder was genau mit den Bildern passieren würde, verriet er nicht.
Auf die Telefonate reagierten die zufällig Angerufenen mal skeptisch, mal neugierig. Und die Gespräche verliefen so, wie sie nur in dieser direkten und zugleich anonymen Form verlaufen können: Mit einer älteren Frau besprach Kahrimanovic anderthalb Stunden lang Kleidung, Position und Haltung. Andere forderten ihn auf, sich auszuziehen, an sich herumzuspielen oder gar sich die Arme abzuschneiden. «Es ist erstaunlich, wie weit die Menschen gehen. Wenn sie erst einmal begriffen haben, dass sie in einer Machtposition sind. Sie fangen plötzlich an, Befehle zu erteilen, ohne gross über die Konsequenzen nachzudenken.» Erst im Nachhinein sei ihnen jeweils klar geworden, was da eigentlich gerade passiert sei: «Viele riefen mich ein paar Stunden danach zurück und meinten: ‹Was war das jetzt gerade?›»
Eine Grenzerfahrung. Eine, der sich Kahrimanovic auch selbst aussetzte: Unermüdlich wählte er Nummern. Manchmal arbeitete er bis in die frühen Morgenstunden hinein. Er nahm sich jeglicher Rollen an, während die Menschen auf der anderen Seite des Telefons sich in ihn «hineinbeschrieben», wie er es so schön formuliert. «Da waren Business-Typen, die fragten, ob ich einen Anzug anziehen könne. Als wären sie nicht schon den ganzen Tag mit Männern in Anzügen konfrontiert.» Manchmal sei die einzige Rolle, die man kenne, halt die, die man immer gespielt habe.
Jedem Porträt seine Geschichte
Und was ist seine Rolle? Ihn habe stets das Gefühl geprägt, nirgends richtig dazuzugehören, sagt Kahrimanovic. Weder in Bosnien, noch in der Schweiz, noch in Boston, wo er vor Kurzem ein Austauschsemester gemacht hat. Kahrimanovic klingt nicht wehmütig, als er das sagt. Eher abgeklärt. «Ich frage mich permanent, wer ich bin. Dazu baue ich mir Geschichten auf. Ich entferne mich ständig und komme mir dann wieder näher.»
Erzählungen sind ihm wichtig. Jedes der einzeln käuflichen Porträts wird samt seiner Geschichte verkauft, dem protokollierten Gespräch mit dem Menschen auf der anderen Seite der Leitung.
Auch bei der Performance, für die Kahrimanovic im März den Helvetia Kunstpreis (vor einem Jahr noch Nationale Suisse Preis) bekommen hat, und die er an der Liste täglich um 16 Uhr zeigt, spielen Geschichten eine wichtige Rolle. Auf einem knatternden Diaprojektor zeigt er gefundene Negative, Erinnerungskonserven fremder Menschen, und gleicht seine eigenen Erinnerungen mit diesen Bildern ab. Dann artikuliert er abwechselnd auf Bosnisch und Deutsch seine Gedankengänge, während er um den Projektor herumläuft und weiterdrückt, sobald sich für ihn das Bild erschöpft.
«Ich bin immer ganz nah am Menschen und doch weit weg», sagt er, als ich mir noch sein Portfolio anschaue. Auch hier finden sich Selbstporträts, verzerrt und verschwommen, auf verschiedene Arten verfremdet. Wie bei den Porträts, auf denen er zwar omnipräsent, aber doch nicht vorhanden ist. Wie am Telefon, wo er in die intimsten Bereiche wildfremder Menschen eindringt, sich aber wiederum als Leinwand für deren Wünsche zur Verfügung stellt.
Es ist eine konsequente Selbstzerstörung, die sich in diesem Werk andeutet. Eine Verfremdung, die immer auch eine Annäherung ist – an den, der Dijan Kahrimanovic sein soll, und an den, der er ist: ein vielversprechender Künstler mit 278 Gesichtern und einem wohlverdienten Kunstpreis.