Hugo Jaeggi gilt als Grossmeister unter Schweizer Fotografen. Im Ausstellungsraum Bellevue stellt er eine Auswahl aus seinem Lebenswerk vor.
Burg liegt im Leimental, in einem Zipfel der Schweiz, der abgeschottet durch den Wald wie eine winzige Enklave wirkt. Hier wirkt seit Anfang der 1990er-Jahre Fotograf Hugo Jaeggi, hier bildete er Lehrlinge aus, im kleinen Labor im Keller. Vom Wohnzimmer aus sieht man durch die Fenster auf das nahe Frankreich, auf die Felder davor, auf eine Landschaft für Maler.
Vielleicht zog ihn insgeheim nur der Ausblick an diesen Ort, denn Jaeggi, der als Jugendlicher Kunstmaler werden wollte, verliess nie den Pfad der «gezeichneten Bilder». Ein Blick auf sein langes Schaffen verrät das: Es sind immer wieder seltsam orchestrierte Trouvaillen, die Jaeggi über die Jahre geschossen hat.
Nun stellt der Fotograf sein Lebenswerk aus, wofür er Arbeiten aus mehr als 50 Jahren durchkämmte. Wir besuchten ihn aus diesem Anlass an seinem Wohn- und Arbeitsort.
Bilder aus seinem Schaffen finden Sie in unsererem Bildstoff.
Herr Jaeggi, Sie haben während 50 Jahren Alltagssituationen festgehalten. Ist die Kamera immer griffbereit?
Früher war das so, jetzt nicht mehr. Einige Jahre lang war ich fotomanisch und konnte ohne Kamera nicht aus dem Haus. Ich hatte Angst, etwas zu verpassen. Dann habe ich gelernt, dass man Situationen auch mit den Augen festhalten kann.
Sie sind also auch ohne Kamera Fotograf?
Der Fotograf in mir arbeitet immer. Auch wenn ich nicht fotografiere, gestalte ich das Gesehene innerlich. Das ist wie ein Film, der im Hintergrund dauernd läuft.
Und was ist der Mensch für Sie vor der Kamera?
In erster Linie ein Mensch. Ich nehme mir Zeit und widme mich dem Menschen, der da steht.
Sind die Menschen heute dank Smartphones und Selfies agiler vor der Kamera als früher?
Nein, noch immer höre ich oft: «Aber ich bin doch nicht fotogen.»
Was tun Sie dann?
Dann bringe ich ihnen den Schmus. Ich sage oft, wie wunderschön das Licht auf ihrem Gesicht spielt und wie sehr es ihren Ausdruck betone. Ich hatte nie Schwierigkeiten, Menschen zu fotografieren – ich mag sie und sie scheinen mich auch zu mögen
«Ich fotografierte Randständige, Aussenseiter, Schwerarbeiter und Alkoholiker.»
Der Mensch ist Ihr grosses Thema. Bitte erzählen Sie.
Der Mensch fasziniert mich seit meinen fotografischen Anfängen. Eines Nachmittags ging ich aus dem Lehrbetrieb in Solothurn, um mein erstes Bild zu machen. Auf der anderen Strassenseite sah ich einige Bauarbeiter. Ich ging hin und fotografierte einen davon, wie er sich gerade eine Zigarette anzündete. Die Szenerie beeindruckte mich unglaublich. Da passierte etwas in mir. Eine innere Stimme sagte: «Hugo, es wird der Mensch sein.» Von da an fotografierte ich Menschen, insbesondere Randständige, Aussenseiter, Schwerarbeiter und Alkoholiker. Wo andere am Abend ins Kino gingen, trieb es mich in die Mostwirtschaft, wo Schnaps aus grossen Gläsern getrunken wurde. Das alles faszinierte mich so sehr – die Stimmung, der Geruch, die Freude, die sie hatten.
Wie wurden Sie in diesem Kreis mit einer Kamera akzeptiert?
Vielleicht ist es eine Begabung von mir, vielleicht auch einfach nur Glück, aber ich habe die Menschen immer angezogen oder sie mich. Mein Leben lang konnte ich ohne Probleme mit ruhigem Gewissen und ohne Hemmschwelle fotografieren – sei es zum Thema Malaria, Lepra oder eben in der Mostwirtschaft. Wenn ich einem Menschen begegne, ist es nicht nur der Mund, der spricht, sondern auch das Auge.
Und was passiert da in diesem Moment genau mit Hugo Jaeggi?
Sehr viel. Als ich in einem Slum in Indien für eine Reportage Leprakranke fotografieren durfte, begegnete ich einem erkrankten Mann. Ich habe ihn nicht einfach fotografiert, sondern bin zuerst hin, habe ihm in die Augen geschaut und ein Einverständnis vernommen. Nachdem ich ihn fotografiert hatte, gab ich ihm einen Kuss auf sein lepröses Gesicht. Da spielte das Herz mit, die Seele.
Sie sprechen hier von der Nähe zum fotografischen Objekt, aber schafft die Kamera nicht auch immer Distanz zwischen Fotografen und Gegenüber?
Doch, das tut sie natürlich. Eine Bekannte von mir, die sich gerne fotografieren liess, sagte eines Tages zu mir: «Hugo, heute nicht. Ich will nicht, dass du die Leica vor dem Gesicht hast, wenn du mich fotografierst. Du verdeckst dich, ich möchte aber dein Gesicht sehen.» Da benutzte ich halt eine zweiäugige Rolleiflex, die nur meine Brust bedeckt.
Die Bilder, die Sie von Leprakranken in Indien oder auch von Aids-Kranken im Rahmen des Lighthouse-Projektes gemacht haben, entstanden zu einer Zeit, als die Welt noch nicht genug sensibilisiert war für solche Bilder. Wieso macht man Bilder, von denen man ahnen kann, dass die Welt sie nicht sehen will?
Ich dachte in diesen Zeiten nicht daran, ob das jemand sehen will oder nicht – ich musste es einfach machen. Ich fotografiere nie fürs Publikum – daran denke ich nicht, sonst kann ich nicht mehr abdrücken. Aber wieso sollte man solche Bilder nicht anschauen? Was für eine Art Welt ist das?
Solche Bilder führen oftmals die eigene Sterblichkeit vor Augen. Was sehen Sie in solchen Szenerien: das Leben oder den Tod?
Weniger den Tod, eher eine Art Vergänglichkeit. Die möchte ich festhalten.
Ist das ein Trieb, ein Drang?
Eine Faszination.
«Der Rückblick auf mein Lebenswerk hat mich aufgewühlt. Es ist, wie wenn man sein Leben durchwandert.»
Nun wird Ihr Lebenswerk ausgestellt – das dient ja immer auch als Chronik des eigenen Lebens. Wie fühlt sich das an, wenn man mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird?
Der Rückblick auf mein Lebenswerk hat mich aufgewühlt. Wenn ich nun die Bilder betrachte, die ich über all die Jahre hinweg gemacht habe, beginnt eine Leidenszeit und auch eine schöne Zeit. Ich werde plötzlich in die Epoche zurückversetzt, in der ich die jeweilige Aufnahme gemacht habe. Dann setzt die Selbstreflexion ein, und ich frage mich, was ich damals gemacht habe, warum ich das gemacht habe und in welcher Phase ich mich befand.
Sehen Sie eine Konstante in Ihrem Werk?
Ja, das tue ich. Fotografisch zeigen die Jahrzehnte keinen Unterbruch für mich. Natürlich komme ich bei der Aufarbeitung teilweise an einen Ordner, den ich nur überfliege, da ich in diesem Moment die Aufnahmen darin nicht sehen möchte – einfach weil ich mich frage, wieso ich dies oder jenes fotografiert habe. Da hat es Phasen darunter, in denen es mir nicht gut ging, in denen ich mich als Versager fühlte. Natürlich hat es auch viele schöne Abschnitte. Ich habe ein bewegtes Leben hinter mir.
Das fotografische Arbeiten geht also Hand in Hand mit den persönlichen Erlebnissen?
Die Aufarbeitung ist, wie wenn man sein Leben durchwandert. Da hilft die Fotografie – sie ist wie ein Beleg, dass das alles stattgefunden hat. Ein Schriftsteller hätte über sein Leben geschrieben, ich habe Bilder gemacht. Aber auch wenn nicht alle Momente toll waren, gibt es keinen einzigen Abschnitt, von dem ich die Negative in den Ordnern verbrennen würde. Ich fühle mich privilegiert – ich hatte ein reichhaltiges Leben mit Tiefgängen.
Stolpern Sie bei der Aufarbeitung Ihrer Werke auch über Juwelen, die verloren schienen oder über die Jahre zu solchen wurden?
Sicher! Ich entdecke Bilder von vor langer Zeit, die ich plötzlich gut finde. Damals sah ich diese Bilder nicht auf diese Weise. Ich frage mich dann jeweils, warum ich dieses oder jenes Bild nicht vergrössert habe. Aber das hat wohl mit dem Alter zu tun – die Dinge ändern sich, das eigene Empfinden ändert sich, nur die Motivation, die bleibt gleich.
Das Alter hindert Sie aber nicht am Fotografieren.
Nein, Älter werden ist toll. Ich spüre, dass ich noch immer diesen Input wie früher habe. Wenn ich mein jetziges Schaffen mit demjenigen aus den 50er-Jahren vergleiche, merke ich auch, dass der eigene Stil nie verloren gegangen ist. Auch in meinem Alter noch nicht. Allerdings habe ich viel dazugelernt, auch so offen zu sprechen, wie ich es jetzt tue.
Galten Sie eher als ein Einzelgänger mit einer Kamera?
Ich war zurückgezogener, hatte furchtbare Hemmungen und ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Das hat sich dann auch durch meine Nebentätigkeit als Fotografielehrer gebessert – aber zu Beginn habe ich noch gezittert, bevor ich vor die Klasse trat.
«Im Labor fühle ich mich immer wohl – es ist meine Heimat, in der ich mich geborgen fühle.»
Das hat sich auch in der Arbeit geäussert – mit Ihren Werken sind Sie nicht immer an die Öffentlichkeit gegangen.
Das stimmt. Es gibt Menschen, die werden gemacht. Ich hingegen hatte nie die Begabung, mich zu verkaufen. Ich habe immer nur meine Arbeit getan. Dann ist etwas gegen aussen passiert – ich wurde plötzlich wahrgenommen. Das ist auch in Ordnung für mich, schliesslich möchte man trotz allem rausgehen, ansonsten kann man sich gleich ein Leben lang im Zimmer einschliessen, arbeiten und dann sterben.
Apropos einschliessen – was ist das Labor für ein Ort für Sie?
Im Labor fühle ich mich immer wohl – es ist meine Heimat, in der ich mich vom ersten Moment an geborgen fühle. Ich liebe auch den Geruch der Mischungen. Die Menschen, die mich besuchen, meinen immer, die würden gleich explodieren.
Das ist verständlich, schliesslich sind Sie auch einer der wenigen Fotografen, die im Labor rauchen.
Dafür trinke ich dort keinen Whisky, wie all die anderen Fotografen. Die behaupten dann immer nur, die Flaschen mit Mischungen an der Wand seien Chemikalien – dabei ist Whisky drin.
Ein grosser Teil eines Bildes entsteht ja auch bei der Entwicklung im Labor. Früher haben Sie schwarz-weiss fotografiert – heute machen Sie auch Farbfotografien. Wie entscheiden Sie?
Das ist ein Augenentscheid, hängt aber auch davon ab, welche Kamera ich dabei habe. Mein Lebenswerk entstand hauptsächlich mit der Leica, nicht digital. Auch heute noch ist sie meine Hauptkamera, und da weiss ich halt, dass die Bilder schwarz-weiss werden. Klar komme ich an Sujets heran, die ich gerne farbig fotografieren möchte, weil das einfach besser passt. Ich sehe das Bild vor mir, bevor ich fotografiere. Ich sehe etwas und denke: dies wird schwarz-weiss und jenes wird farbig.
In der Digitalfotografie ist die Frage nach schwarz-weiss oder farbig ja erst am Computer fällig und nicht mehr zwingend, weil beides geht. Verliert ein Bild somit nicht auch an Wert?
Das kommt darauf an, was man mit dem Bild noch vorhat. Ich arbeite auch viel experimentell, wobei ich normale Aufnahmen oft abstrahieren möchte. Sie verändern sich dann in der Bedeutung – gewisse Aufnahmen gehen beinahe in die Malerei über. Mit 16 Jahren wollte ich ja tatsächlich Kunstmaler werden. Wahrscheinlich liegt das latent in mir – das Malerische, das Verfremden.
Und wenn Sie Ihre früheren Werke betrachten: Gibt es Bilder, die Sie gerne in Farbe sehen würden?
Nein, eher umgekehrt.
Gibt es noch ein Bild, das Ihnen fehlt?
Nicht nur eines. Im Moment reizt mich Experimentelles mit starker Ausdruckskraft. Mittlerweile bin ich gegen das schlichte Abfotografieren von Szenen – man kann mehr machen als das, kann sich hineinleben. Plötzlich entdeckt man ganz neue Sachen, Objekte, die man vorher nicht gesehen hat. Da beginnt es bei mir. Ich gerate in Ekstase und Fotografieren wird dann zum Muss. Für wen oder für was ich dann Bilder mache, weiss ich nicht – aber ich sehe sie genau vor mir.
Und dann wissen Sie: Ich habe den Schuss?
Ja, ich merke, dass es funktioniert. Teilweise ist der Einstieg schwierig, es harzt, aber plötzlich macht es klick und ich beginne in dieser Thematik zu leben, in dieser Arbeit. Die Materie umschliesst mich dann und gehört zu mir.
Der 1936 in Solothurn geborene Hugo Jaeggi lebt heute in Burg im Leimental (BL). Nach einer Ausbildung zum Fotografen arbeitete er kurze Zeit als Kameramann beim Schweizer Fernsehen, seit 1961 ist er freischaffender Fotograf. Seine Reisen führten ihn unter anderem nach Osteuropa, Weissrussland, Südamerika, Indien und Afrika. Hugo Jaeggi hat seine Bilder in vielen Ausstellungen im In- und Ausland ausgestellt und ist Träger mehrerer Auszeichnungen und Preise. 1998 hat er den Kulturpreis der Stadt Solothurn erhalten. 2006 ist sein letztes Buch «Nahe am Menschen – Fotografien aus fünf Jahrzehnten» im Benteli-Verlag erschienen.«Die Aufarbeitung ist, wie wenn man sein Leben durchwandert. Da hilft die Fotografie.»
Hugo Jaeggi: «Zwischenwelten». Bellevue, Breisacherstrasse 50, Basel. Bis 1. 12. Vernissage: 26. 10., 17 Uhr.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 25.10.13