Die jüngste Teilnehmerin an unserem Sommer-Slam ist die Zürcher Poetin Hazel Brugger (18). Aus den vorgegebenen fünf Begriffen «Bakschisch», «Zirkusdirektor», «Kürbiskernöl», «Rammbock» und «Hebamme» bastelte sie eine wunderbare Geschichte über die albtraumhaften Hundstage.
So ein Schweizer Sommer ist wohl eher kulturell als meteorologisch von den anderen Jahreszeiten abzugrenzen. Mitte Juli, kaum scheint die Sonne für mehr als vier Stunden am Stück, schlägt plötzlich landesweit der Gedanke ein wie ein Rammbock: Es ist Sommer, Schatz, mach den Rasensprenger an, ich hol die Grillkohle aus dem Keller, der Gestank wird die Nachbarn schon nicht töten.
Die Garten möbeln und die Fische spinnen und die Spinnen schwimmen und die Vögel fischen und die Fische vögeln – man rezitiert Sommermusik, deren Namen man nicht kennt.
Auf Kleidung und guten Geschmack wird fortan verzichtet, emotionsexhibitionistische Steinerschüler lauern auf jeder öffentlichen Wiese mit Gitarren bewaffnet, bereit, die Juteschlüpfer dieser Welt zum Kochen zu bringen.
Im Rollschinkenlook stöckeln zu lange schon ungeliebte Hormonschleudern aus den Löchern auf die Pirsch, gequetschte Kilos zählen nicht, und im Club ist es hoffentlich dunkel.
Die Zürcher zeigen ihre Knöchel, in Basel sieht man nackte Knie. Lausanne forscht weiter nach Mitteln gegen Hautkrebs – die Frisuren sitzen. Freischaffende Künstlerinnen in ihren Mittvierzigern verschreiben sich der BH-Losigkeit, die Igelnäschen unter dem Shirt ausgefahren und funkbereit. Denn so ein Sommer ist ja zumindest kalendertechnisch gesehen nichts anderes als ein zweiter barbarischer Frühling, Zeit der Frei- und Geilheit, wo Frauen Hosen tragen und selbst Männer als Hebammen arbeiten dürfen. Nur die Christen singen weiter ihre Hymnen an die Hymen, Gott kennt keine Sommerpause.
Der Lederportemonnaie-Look
Der öffentliche Verkehr wird zum Verschmelzungsakt, alle riechen nach Wandertag, und die schweissbeperlten Gesichter glänzen wie in Kürbiskernöl getränkte, doppeltverspiegelte Marmoräpfel, bereit, im UV-Licht die negroide Seite von innen nach aussen zu stülpen und sich für immer dem Lederportemonnaie-Look zu verschreiben. Gerannt wird nicht, den Uhren ist heiss, gedacht wird nicht, die Augen sind zugekniffen. Man enthaart sich die Fussrücken, trägt Flipflops. Nur wer die längsten Zehen hat, stürzt nicht, die sommerlichen Sieger der Evolution.
Einzig und allein die Alten riechen eiskalt und wie immer, beharrlich nach Tod und Zerfall. Man liest, dass im Geriatriezentrum Schinznach schon wieder sieben das Zeitliche gesegnet haben: vergessen, genügend zu trinken, in sich zusammengefallen wie die leergesaugte Dörrpflaume im senilen Brutkasten.
Dabei müssten sich die Achtzigplusjährigen doch ganz einfach einen dieser superflippigen Leichtgewichtswasserpackrucksäcke mit PVC-Hydrationssystem und Glow-In-The-Dark-Trinkschlauch anschnallen – ’n bisschen Sirup rein für den Geschmack, und zack – man lebt für immer. Geht auch ohne Gebiss, nimm das, AHV, wir kaufen uns Griechenland als Rentnerheim. Eulen, Wein und Nutten im Gepäck.
Zu Hause geblieben, gehen einem die Ausreden aus, warum man nicht mit ins Schwimmbad kommen könne, warum gerade heute Grillieren eine ganz schlechte Idee sei und warum man sich diese weitere, heitere Feel-Good-Sommerkomödie von Woody Allen eigentlich lieber alleine und sturzbetrunken aus der letzten Reihe ansehen würde. Midnight in Paris, To Rome with Love, Circumcised in Dübendorf. Wer zuletzt lacht, ist Kulturbanause.
Also köpft man das Sparschwein, fährt weit weg, um in einem Hostel im Irgendwo auf irgendeinen Simon, Rafi oder Tobi aus Bümpliz zu treffen, der schon seit ganzen fünf Tagen ganz alleine weg von zu Hause ist. Auf Selbstfindung, dem Versuch, Zirkusdirektor seiner eigenen Parade zu werden, wie er es nennt. Medienwissenschaftsstudent im tausendsten Semester, versteht nicht, dass der einzige Grund der eigenen Reise ja eigentlich war, endlich einmal laut über alle anderen lästern zu können und sich vorzustellen, die unverständliche Sprache hier sei eine Aneinanderkettung philosophischer Wahr- und Weisheiten, die Welt jenseits des Westens also doch ein wunderbar mystischer Ort – Suizid ein rein geografisch bedingter Wunsch.
Schweizer im Ausland
Den Simon oder Tobi, oft auch Marco oder Marcel, wird man nie wieder los, Herpes Hominis Complex, man wird virtuell vernetzt. Ihm ins Gesicht zu sagen, wie scheissedoof man ihn und seine asiatische Billigkompaktkamera findet, geht nicht, nicht im Ausland, wo alle Schweizer plötzlich gleich und Freund sind.
Doch als Alternative zu den Schweizern findet man im Ausland was? – Genau, die Ausländer. Überall wimmelt es von ihnen, und sie wollen partout nicht wahrhaben, dass sie nun einmal auch in ihrer eigenen Heimat nicht der helvetischen Norm für Nichtausländer entsprechen. Einmal Ausländer, immer Ausländer, und dann riechen die auch immer noch so komisch, wollen ständig irgendwas verkaufen oder am Ende gar verschenken. Bakschisch, Almosen, Kamelfrauen – der Westeuropäer zelebrierts mit Durchfall.
Aber spätestens wenn im September wieder alle zu Hause sind, die Mägen sich vom Sommer erholt haben und auch die letzten sonnenverbrannten Hautfetzen am Boden der Duschwanne gelandet sind, sind endlich wieder alle scheisse drauf.
Nur ich setz mich auf die Terrasse, schmeiss den Grill an und summe Weihnachtslieder.
Wer Hazel Brugger live erleben möchte: Am 14. September tritt sie – wie auch die Sommer-Slammer Laurin Buser und Lara Stoll – am ersten Slam Basel im Sud auf.
Nächste Woche an der Reihe: Mischa-Sarim Verollet. Er ist Slam-Poet und Autor mehrerer Bücher, darunter «Das Leben ist keine Waldorfschule» mit dem schönen Satz: «1989, ich war acht Jahre alt, passierte so einiges: Berlin verlor seine Mauer, ich meine Vorhaut.»
Hazel Brugger verlangt, dass er folgende fünf Wörter in seine Sommergeschichte einbaut:
– Nierenversagen
– frigide
– Sommersonnenwende
– Grundausbildung
– Frontalunterricht
Was Mischa-Sarim Verollet daraus macht, erfahren Sie im neunten Teil unseres Sommer-Slams.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.08.12