Der brasilianische Songwriter Lucas Santtana gehört zum Progressivsten, was Brasilien momentan an Musik zu bieten hat. Am Samstag spielt er am Stimmen-Festival in Lörrach. Wir haben mit ihm über Musik, die Proteste in seiner Heimat gesprochen und warum er keine Protestmusik mag.
Der brasilianische Songwriter Lucas Santtana spielte in den Bands der brasilianischen Superstars Gilberto Gil und Caetano Veloso, mit seinem dritten Album gelang ihm der Sprung an die Spitze der europäischen World Music Charts. Er ist einer der progressivsten künstlerischen Kräfte seines Landes, das gerade aufregende Zeiten erlebt.
Lucas Santtana, man könnte Sie wegen Ihrer progressiven Sounds, aber auch wegen Ihrer Texte als urbanen Musiker bezeichnen. Denn Sie beschäftigen sich in Ihren Liedern vielfach mit dem Phänomen der Stadt. Sie haben Widmungen an São Paulo und Belém geschrieben, als ob diese Geliebte wären. Die Städte haben bei Ihnen auch ein Eigenleben, werden verrückt…
Ja, sie wachsen chaotisch, genau wie wir selbst. Ich bin da vom Autor Italo Calvino beeinflusst, der in seinem Buch «Le Città Invisibili» Städte sehr minutiös beschrieben hat. Städte sind Personen für mich. Auch wenn mein Aufenthalt in ihnen oft sehr flüchtig und oberflächlich ist, gelingt es mir meistens, ihren Spirit, ihre Stimmung zu erfühlen. Was danach bleibt, ist der Wunsch, bald zurückzukehren und mehr Leute kennen zu lernen, eine intimere Beziehung aufzubauen, wie jemand, der dort lebt.
Ihre neue CD nennt sich «O Deus que devasta mas também cura» – der Gott der zerstört, aber auch heilt. Ein schöner Titel – hat er einen persönlichen Bezug?
Genau an dem Tag, als ich nach meiner Scheidung mein altes Heim zurückliess, wurde Rio von einem Tropensturm heimgesucht. Als ob Gott das Bisherige verwüsten wolle, um einen Neuanfang zu ermöglichen, auch für mich selbst. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung vom letzten zum aktuellen Album wider: Früher war ich minimalistisch, nach innen schauend, heute spreche ich zwar auch noch von intimen Dingen, aber ich trage sie mit einem «maximalistischen» Sound nach aussen.
Sie arbeiten auch mit sinfonischen Orchestern in den neuen Liedern, zumindest steht es so in der Musikerliste des Booklets…
Vorsicht: Alle diese Symphonieorchester in meinen Liedern sind fiktiv! Ich habe Samples von Beethoven, Ravel, Debussy und anderen Komponisten verwendet. Und habe diesen dann Fantasienamen verpasst, wie Hogwarts, die Zauberschule von Harry Potter, die mein neunjähriger Sohn so liebt. Es ist also auch eine Widmung an ihn.
Neben vielen elektronischen Sounds gibt es auch ausgesprochen melancholische Momente in Ihrem Repertoire. Sind Sie trotz allem ein Romantiker?
Zunächst einmal: Auch wenn ich sehr elektronisch arbeite, verwende ich sehr viel Sorgfalt darauf, dass es organisch bleibt, ich will, dass es sich immer so anhört, als würde die Musik live gespielt. Und ja, ich kann melancholisch werden, wenn ich über die Liebe singe. Etwa über eine Liebe, die aufgehört hat, die aber als Erinnerung an das, was sie einmal bedeutete, weiterlebt. Oft sehen wir am Himmel Sterne, die schon längst nicht mehr existieren, aber ihr Licht ist für unsere Augen immer noch sichtbar.
Traditionelle Musik gibt es bei Ihnen nur ganz hintergründig, ein einziges Mal machen Sie im neuen Repertoire Gebrauch vom Sambarhythmus.
Brasiliens Musik ist sehr reich und differenziert. Der zentrale Charakter ist der des Crossovers zwischen Kulturen. Deshalb denke ich, dass Ska, Afrobeat, Jazz, Electronica, all das, was ich in meinen Liedern verwende, ein Teil der brasilianischen Musikgene sind. Und für mich sind all diese Elemente völlig gleichberechtigt. Ich mag keine Hierarchien. Ich bin ein Verfechter von Unterschieden und Freiheit.
Wir erleben gerade die grössten Demonstrationen in Brasilien seit etlichen Jahrzehnten. Woher kommt dieses neue politische Bewusstsein?
Während der Regierungszeit von Lula gab es zum ersten Mal eine Einkommensverteilung, dank der 18 Millionen Menschen der Armut entkommen konnten. Doch gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten rapide angestiegen. Die neue Mittelklasse hat ihre Kaufkraft verloren und begann sich zu fragen, warum sie trotz der hohen Steuern keine kostenlose Bildung erhielt oder von einem guten Gesundheitssystem profitieren konnte. Parallel dazu erkannte sie, dass es möglich ist, anhand des Internets eine Demokratie mit Bürgerbeteiligung zu leben. Nachdem diese neue Schicht begann auf die Strasse zu gehen, trauen sich nun auch die Favelabewohner, die von der Polizei sonst immer massiv unterdrückt werden. Es ist ein grandioser Moment in meinem Land.
Die Demonstranten drücken ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System aus, mit der Bürokratie, der Korruption, der Verschwendung für teure, neue Fussballstadien. Was kann diese Protestbewegung bewirken?
Sie hat schon etwas bewirkt. Der Senat hat schon bewilligt, dass das Volk mit 500 Millionen Online- Unterschriften Ideen für neue Gesetze einbringen kann. Die Organisation AVAZZ hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Präsidentin Dilma Rousseff weiss: Wenn sie den Reformen nicht zustimmt, wird sie nicht wiedergewählt. Das Volk wird auf den Strassen nicht nachlassen, Druck zu machen.
Gibt es Musiker, Künstler die sich beteiligen? Waren Sie auch unter den Demonstranten und was haben Sie für Beobachtungen gemacht?
Ja, die Künstler meiner Generation sind auf den Strassen, ich war auch ein paar Mal dabei. Die Demonstrationen, bei denen ich mitlief, waren pazifistisch und parteilos. Es gibt immer eine Minderheit, die nur kommt, um Unruhe zu stiften. Aber die überwältigende Mehrheit geht mit einer grossen Klarheit über ihre Forderungen raus. Denn wir haben die Nase von der grossen Korruptionsmaschinerie der brasilianischen Politiker gestrichen voll.
Gibt es Lieder, Gedichte, Theaterstücke die diese Revolution begleiten und dokumentieren?
Davon habe ich bisher noch nichts gehört. Aber ich mag keine Protestmusik. Die hat immer ein schnelles Verfallsdatum. Nicht mal Bob Dylan kann sich gegen diese Regel behaupten (lacht).
Heute wissen wir, dass die Fussball-WM in Südafrika dem Land keinerlei Verbesserung gebracht hat. Wie wird das Ihrer Einschätzung nach dem Cup 2014 und den Olympischen Spielen 2016 in Brasilien aussehen?
Die FIFA hat 2 Milliarden Dollar Gewinn beim Confederations Cup gemacht und keinen Cent an Brasilien gezahlt. Ihre Verträge mit den Regierungen sind schändlich, sie raubt viel Geld aus öffentlichen Mitteln. Und Verbesserungen in der Infrastruktur, auf Flughäfen, in Bahnhöfen etc. gibt es auch nicht. Darüber hinaus sind die Eintrittskarten für die Spiele wahnsinnig teuer und die normalen Leute können die WM nicht im Stadion miterleben. Verbesserungen? Da glaube ich nicht dran. Ich liebe Fussball und werde unserem Team die Daumen halten. Er ist weitaus mehr als ein Sport in Brasilien, er ist unsere Kultur. Aber aktiv am Rahmenprogramm werde ich mich nicht beteiligen.
Lucas Santtana am Stimmen-Festival, 27. Juli 2013, 20 Uhr.
Mix der Musikgene: Lucas Santtana bedient sich quer durch die Musikpalette Brasiliens.