Am Montagabend wurde Fritz Hauser im Rathaus der Kulturpreis verliehen. Im Interview erinnert sich der Basler Perkussionist an seine Begegnung mit John Cage, der ihm kurz vor seinem Tod «ONE4», ein eigenes Stück, schenkte.
Herr Hauser, wie kommt man an ein Stück von John Cage?
Ich wollte mir damals ein Soloprogramm zusammenzustellen. Im Konservatorium hatte ich aber immer dieses Befremden, mit Stücken umzugehen, die nichts mit mir zu tun hatten. Also bin ich an verschiedene Leute herangetreten und habe sie gebeten, mir ein siebenminütiges Stück zu komponieren.
Sie kannten Cage also schon?
Nein, eine Freundin, die amerikanische Komponistin Pauline Oliveros, stellte den Kontakt her. Ich war damals in New York, hatte eigentlich viel zu grossen Respekt. Aber ich fragte Pauline, ob es wohl eine Chance gibt, und sie sagte: «Sure, just call him!» Dann hab ich ihn angerufen und mein Sätzchen rausgestammelt. «Oh, it’s nice», sagte er. «Why don’t you come over and have some tea?» Und dann bin ich in sein Loft, weit oben, schön lichtdurchflutet. Er war ganz nett, es gab Tee. Ich habe von meinem Projekt erzählt. Er stand auf, ging zum Fenster, guckte eine Weile runter und sagte: «I like it. I’ll do it.» Da war ich elektrisiert! Als ich über das Geschäftliche reden wollte, hat er wieder ein bisschen runtergeguckt und gesagt: «You know, I don’t really need anything.» Er betrachtete das als eine Gefälligkeit unter Kollegen. Da war ich natürlich im siebten Himmel.
So einfach ging das?
Na ja, ich habe schnell realisiert, dass ich eigentlich nichts in der Hand hatte. Aus der Schweiz habe ich ihm einen Brief geschrieben. Keine Reaktion. Dann habe ich ihn angerufen. Er freute sich sehr über einen Anruf, denn es war Weihnachten und er langweilte sich. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er wusste, mit wem er sprach. Schliesslich hat ihn eine Bekannte bei einem Empfang auf das Projekt von Fritz Hauser angesprochen. Er fragte nur zurück: «Fritz who?»
Sie dachten, die Sache sei gelaufen.
Ja. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, der an der Grenze der Höflichkeit war. Zwei Tage nachdem ich ihn auf die Post gebracht hatte, kam ein grosses Couvert mit dem Stück darin. Es war ihm also nie entglitten. Meinen Brief konnte er noch nicht haben, also habe ich ihn angerufen und ihn gebeten, ihn wegzuwerfen, wenn er kommen würde. «Oh no», sagte er, er würde so gerne Post bekommen. – «Ich schreibe Ihnen zwei, drei Briefe, so viele sie wollen – aber bitte nicht den!» Zum Glück liess er sich umstimmen.
In Hausers sonorer Stimme schwingt noch etwas von der Aufregung nach, mit der er damals die Noten aus dem Couvert zog. «For Fritz Hauser» – die eigenhändige Widmung fällt ihm sofort ins Auge. Doch das Stück verwirrt ihn. Es umfasst nur zwei Seiten. Auf der ersten finden sich spieltechnische Anweisungen: Es darf nur entweder kurze Schläge ohne Nachschwingen oder aber Klangflächen ohne Impuls geben. Die Artikulation wird also auf die Extreme eingeschränkt: Punkt und Fläche – und gerade letzteres ist auf dem Schlagzeug eine Herausforderung. Auf der zweiten Seite finden sich 14 kurze Notenelemente, sogenannte time brackets. Sie geben eine grobe Struktur an, wann welche Hand ein Klangereignis erzeugen soll. Es sind jedoch nur variable Zeitspannen definiert; und auch die Entscheidung, welches Instrument des Schlagzeugs in welcher der beiden Artikulationen verwendet werden soll, überlässt Cage dem Interpreten.
Wie haben Sie auf Ihr Stück reagiert?
Ich musste mich erstmal bei Kollegen kundig machen, die Erfahrung mit Cage hatten.
Und wie gingen Sie mit all den Offenheiten praktisch um?
Es gibt ja zwei Möglichkeiten: Entweder man improvisiert es im Konzert oder man macht sich eine präzise Partitur. Ich habe dann mit Cage bei einem Treffen darüber gesprochen. Da hat er erstmal geguckt, hat sein Stück angeguckt, mich angeguckt, hat nochmal sein Stück angeguckt, nochmal mich, gelächelt und gesagt: «Fritz, … this is your piece!» Und das war der Schlüssel.
Inwiefern? Der Musikwissenschaftler Heinz-Klaus Metzger sprach von Cages Freilassung der Musik, der Komponist Dieter Schnebel bezeichnet ihn in Gesprächen gerne als Diktator. Fühlten Sie sich also befreit? Oder doch auch von den strikten Vorgaben eingeengt?
Ich fühlte mich provoziert, im positiven Sinne, ich fühlte mich angeregt, weil ich mich mit Dingen auseinandersetzen musste. Was heisst denn dieses «Fritz, this is your piece»? Es hat meine Position als Interpret gestärkt. Und das hat sich auch auf meinen Umgang mit anderen Stücken und auf mein eigenes Komponieren ausgewirkt.
Ist das, was man im Konzert hört, Hauser oder Cage? Wozu braucht Hauser den Cage, wozu Cage den Hauser?
Cage ist darauf angewiesen, dass ich das ernst nehme, und ich bin ihm das schuldig, dass ich das nach bestem Wissen und Gewissen tue. Aber die Bandbreite ist natürlich immens – bis hin zu der Möglichkeit von Stille nur mit 14 ganz kurzen Events. Oder ich kann mich auch für 14 Klangflächen entscheiden, die ineinander übergehen. In der Gare du Nord mit dem ensemBle baBel werden diese Extreme ausgetestet.
Das werden sie tatsächlich. Zwar bleiben an diesem Abend im Gare du Nord Struktur und klangliche Idee des Stückes im Kern unangetastet, doch eröffnet Hauser neues Terrain. Ganz unterschiedliche Versionen des siebenminütigen Stücks werden nebeneinander gestellt. Dabei verteilt er das einstige Solostück auf mehrere Spieler und legt synchron verschiedene Varianten übereinander. Dazu hat er vier Mitglieder des ensemBles baBel aus Lausanne um sich geschart: Antonio Albanese (E-Gitarre), Olivier Cuendet (Keyboard, Objekte), Luc Müller (Perkussion, Objekte) und – besonders eindrücklich – Anne Gillot (Blockflöten, Bassklarinette).
So entstehen spröde und opulente Varianten. Es ist eine wahre Klang- und Geräuschorgie: ein Hämmern, Klappern, Brummen, Surren, Wimmern, Pfeifen und Pusten auf allen möglichen Instrumenten und Objekten. Da wird ein Becken mit einem Geigenbogen zum Schwingen gebracht, ein Fingerhut klackt auf eine Rahmentrommel, ein vibrierender elektronischer Klang drängt von irgendwoher dazwischen.
Hauser ist auf charmante Weise Gastgeber in diesem Kosmos – und auf wundersame Weise dessen Zentrum. Es hat eine besondere Präsenz, wenn er eine ganz kleine Treichel zur Hand nimmt, wie man sie in Schweizer Souvenirshops kaufen kann, sie bimmeln lässt, mit einem Schlägel hineinfährt, sie sirren lässt, sie mit der Hand abdämpft, sie rattern lässt. Das alles vollzieht sich absolut präzis, auch im Leisesten voller Energie. «Schön mit Ihnen!», sagt er zum Publikum, während er Zuhörer Karten ziehen lässt, um zu ermitteln, welche zwei Musiker als nächstes zwischen zwei Versionen von ONE4 miteinander improvisieren sollen.
Im Saal herrscht eine Konzentration, wie man sie in dieser Intensität nur selten erlebt. Dabei liegt das Gehörte jenseits dessen, was durch verlässliche ästhetische Kriterien erfasst und mit üblichen Adjektiven wie «virtuos» etikettiert werden könnte. Das Entscheidende ereignet sich hier im Ohr des Hörers, das auf sagenhafte Weise immer aufmerksamer, immer sensibler wird. «Happy New Ears!» hat Cage das einmal genannt. Ein Spektakel voller Subtilität.
Es ist eindrücklich, wie viele, wie nuancierte Klänge Sie etwa aus einer Trommel herausholen. Hatten Sie eigentlich jemals das Gefühl, ein Instrument ausgeschöpft zu haben?
Nein, ein Instrument kann ich gar nicht ausschöpfen. Wenn, dann habe ich mich ausgeschöpft.
ONE4 kann man dann wohl ebenso wenig ausschöpfen. Was war denn Ihr bestes Erlebnis mit dem Stück?
Das war in Italien. Ich spielte das Stück auf einer Piazza. Da wurde gegessen und getrunken. Die Italiener wollten Musik hören und nicht diese Stille. Schon in der ersten längeren Pause riefen die Leute: «Ma dai! Ma dai!» Ich sass da, konzentriert (Hauser macht eine lange Pause, tippt dann ganz leise auf den Tisch). Tack! Und dann noch eine ganz lange Pause, 38 Sekunden. Da haben die kleinen Engelchen auf meiner Schulter angefangen zu diskutieren: Die einen: «Es ist scheissegal, du kannst das einfach abkürzen; Cage ist tot!» Die anderen: «Man muss doch auch Respekt haben!» Ich habs durchgehalten, und als ich dann das abgedämpfte Becken ganz leise anschlage, da gibt es einen riesigen Klang: Die Kirchenglocke hatte geschlagen, genau gleichzeitig, ein wahnsinniges Unisono. Alle sind erschrocken, ich auch. Da hab’ ich mir gesagt: «You do not fool with John Cage!» Wenn man es konsequent macht, bekommt man immer etwas geschenkt.
- Fritz Hauser wird heute um 18.15 Uhr im Rathaus der Basler Kulturpreis 2012 verliehen. Sylwia Zytynska hält die Laudatio.