Flanieren ist was für altmodische Schöngeister mit angeleinten Schildkröten? Nicht für Anouk Gyssler und Maja Bagat. Die beiden machen mit ihrem «Verein der Flaneure» die Stadt zu ihrer Bühne.
Gibt es noch Flaneure? Diese Menschen, die planlos in der Stadt umherschweifen, genussvoll durch die Menschenmassen treiben und die Umgebung auf sich wirken lassen? Nicht wirklich, will man sagen. Heute ist doch alles und jeder von kleinen Bildschirmen dominiert, kaum jemand nimmt sich noch die Zeit, um ausgiebig und ablenkungslos zu schlendern.
Maja Bagat und Anouk Gyssler sehen das anders. «Wir flanieren für unser Leben gern!», sagen die beiden. Die kreativen Freundinnen – Bagat ist Dramaturgin und Gyssler Regisseurin – belassen es aber nicht nur beim Rumschlendern, sondern bringen die aufgelesenen Geschichten aus der Stadt auch wieder neu in die Stadt – mit performativen Spaziergängen. «Verein der Flaneure», nennt sich das Projekt mit dem Logo einer kleinen Schildkröte, jenes Tier, das im frühen 19. Jahrhundert gerne zum Flanieren an die Leine genommen wurde, damit die Flaneure sich seinem Tempo anpassen konnten.
Einbruch des schlendernden Schöngeistes
Die Figur des schlendernden Schöngeistes war prägend für die Namensfindung des Vereins: «Wir suchten nach einer Bezeichnung, die unsere Faszination passend umschreibt: Man verfolgt aufmerksam, was einen umgibt, man reagiert auf die Stadt und übersetzt sie in eine ästhetische Form», erklärt Gyssler. Diese ästhetische Übersetzung kann auf alle möglichen Arten ausfallen: Auch Graffiti und Parkour sind Reaktionen auf die Stadt.
Gyssler und Bagat aber entschieden sich für Geschichten: Im Frühjahr schrieben sie eine Suche aus, nach Texten zum Thema «Einbruch». Sechs davon sollten ausgewählt und später in bekannten und unbekannten Flecken des Matthäusquartiers von Schauspielern umgesetzt werden. «Wir wollten einen Begriff, der viele Assoziationen zulässt, aber trotzdem nicht zu abstrakt ist», sagt Bagat. «Einbruch» einerseits, weil die beiden mit ihrem Projekt sozusagen in Basel einbrechen, andererseits, weil der Begriff textlich und inhaltlich viel zulassen würde.
«‹Einbruch› passt zum Quartier», sagt Bagat, «hier gibt es viele Innenhöfe, Fachwerkhäuser und Werkstätten, die sich super für einen ‹Einbruch› eignen, da man sie beim alltäglichen Lauf durch die Stadt nicht wahrnimmt.» Einbruch könne sowohl für einen Anfang wie auch für ein Ende stehen, ergänzt Gyssler. Das verstanden auch die Teilnehmer: Die eingesandten Texte handelten nicht nur vom klassischen Einbruch, sondern auch von Realitäts- und Schicksalseinbrüchen.
Schauspiel auf offener Bühne
Und genau wie seine Texte bricht auch der Verein der Flaneure in den Alltag ein und bringt eine Entschleunigung mit sich, die für das Wohnen in der Stadt von grosser Bedeutung sei: «Die schnelle digitale Welt ist in unserem Alltag dominant. Natürlich ist sie verlockend, aber sie darf den direkten Kontakt zu Menschen nicht ersetzen. Gerade in einer Stadt, wo das Zusammenleben auf kleinem Platz zum täglichen Leben dazugehört», sagt Gyssler. Es sei etwas Besonderes, einem Menschen in die Augen zu schauen, ohne etwas in ein Gerät einzutippen zu müssen.
«Bei uns wird das zu Theater, was per se vielleicht gar nicht Theater ist.»
Die Theatersituation eigne sich hervorragend dafür, da sind sich die beiden Spazierenthusiastinnen einig. «Ich finde es spannend, wenn man mit dem Theater an Orte geht, wo es noch nicht ist, wenn man in Austausch mit der Bevölkerung und lebendigen Orten tritt, und nicht einfach eine hermetisch abgeschlossene Bühnensituation hat», sagt Gyssler. Ebenso, dass man auf dem Spaziergang vom Geschehen auf den Strassen überrascht werde: «Wir erweitern die Bühnensituation so, dass das zu Theater wird, was per se gar nicht Theater ist.» So könne das vorbeifahrende hupende Auto bloss ein aufgebrachter Fahrer sein. Oder eben nicht.
Ein Gebilde aus Geschichten
«Genau darum geht es doch auch beim Flanieren – dass man sich plötzlich Kleinigkeiten bewusst wird, die man sonst nie wahrgenommen hätte», sagt Bagat. Die Sinne seien geschärft, man hinterfrage plötzlich alles, auch Sachen, die nicht zum Stück gehören. Wenn man nicht mehr wisse, was inszeniert ist und was nicht, dann habe der Verein seinen Zweck erfüllt.
Und das tut er: Bei der Hauptprobe am Montagabend schleichen wir durch vereinsamte Hinterhöfe und verwunschene Gärtchen, begeben uns in dunkle Kammern und auf luftige Terrassen – alles Orte, die man dieser Stadt bereits nicht mehr zugetraut hätte.
Dazu kommen und gehen ständig Menschen, der Mann vom Kiosk grüsst laut und ein kleines Kind fährt mit seinem Spielzeugauto um die Schauspieler herum. Die Stadt und ihre Geschichten werden zu einem einzigen grossartigen Gebilde und wir müssen feststellen, dass der Flaneur eben doch noch nicht ausgestorben ist. Auch wenn die Schildkröte jetzt nicht mehr an der Leine, sondern auf der Website sitzt.
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Verein der Flaneure, performative Stadtspaziergänge durch das Matthäusquartier, 3. bis 7. Juni, Anmeldung unter info@vereinderflaneure.ch