Im Taumel der Un-Sinne

Das Basler Premierenpublikum feiert seinen «Dügg», der mit Eugène Ionescos «Die Unterrichtsstunde» eine ebenso fulminante wie hintersinnige Lektion in Sachen grosser Schauspielkunst über die Kleine Bühne des Theater Basel fegen lässt.

Tragödie der sprachlichen Konventionen: Die Schülerin (Marie Jung) wird zum Opfer des Professors (Vincent Leittersdorf mit Nikola Weisse als Dienstmädchen). (Bild: Judith Schlosser)

Eine solche Inszenierung muss für Monty Python Pate gestanden haben: Mit Eugène Ionescos «Die Unterrichtsstunde» beweist Werner Düggelin zusammen mit einem hinreissenden Schauspieler-Trio, dass das vermeintlich angestaubte absurde Theater der 1950er-Jahre das Publikum noch heute von den Sitzen zu reissen vermag.

Die Kleine Bühne, so verkündete die Theaterleitung unlängst, stehe vor allem jungen Theaterleuten für Experimente und Fingerübungen zur Verfügung. Die dort aktuell angesetzte Produktion nimmt nun aber allenfalls mit dem Titel «Die Unterrichtsstunde» Bezug auf dieses Prinzip. Schon der noch geschlossene rote Samtvorhang ist das reinste textile Gegenstück zum jungdynamischen Theaterexperiment. Auch der angedeutete bürgerliche Salon, eine Mischung aus Biedermeier und Art Déco (Bühne: Raimund Bauer), der sich bei geöffnetem Vorhang offenbart, deutet eher auf ein wohltemperiertes Konversationsstück hin. Und schliesslich lässt auch der Name des Regisseurs, mit Werner Düggelin gibt sich einmal mehr der Grand Old Man des Schweizer Theaters in Basel die Ehre, anderes erwarten als rabiates Stücke-Zertrümmern oder poppiges Spasstheater.

Düggelin schöpft aus dem Vollen

Doch es kommt anders als erwartet (was beim absurden Theater ja eigentlich zu erwarten wäre, wenn man sich durch die dramatischen Antithesen aus den 1950er-Jahren noch überraschen liesse). Ein bisschen anders zumindest. Düggelin, der seine bei seinen letzten Produktionen – vor zwei Jahren erst hatte er einen Ionesco inszeniert – absoluten Minimalismus walten liess, schöpft hier für einmal aus dem Vollen: Zu erleben ist Boulevardtheater der übergrossen Gefühle, der grossen Gesten und fulminant gesetzten Pointen oder wie Autor Eugène Ionesco seine «Unterrichtsstunde» nannte: ein «Komisches Drama in einem Akt». Ein urkomisches.

«Die Unterrichtsstunde» konfrontiert einen übereifrigen Professor mit einer aussergewöhnlich dummen, aber ehrgeizigen Privatschülerin. Vincent Leittersdorf ist in seinem hellbraunen Kordsakko und den braunen feinkarierten Hosen (Kostüme: Francesca Merz) die Karikatur des Schulmeisters schlechthin, während Marie Jung als hübsche junge Schülerin im kurzen Wickelrock, grellroten Adidas-Turnschuhen und weisser Bluse das verwöhnte Girlie aus gutem Hause abgibt. Als Dritte im Bunde gibt Nikola Weisse den Inbegriff des abgeklärt-routinierten Dienstmädchens.

Es wird bald schon klar, dass sich hinter der verklemmt-höflichen Fassade des Professors der biestige Wahnsinn verbirgt, zumal das Dienstmädchen – «Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt» – vergeblich mehrmals Einhalt zu gebieten versucht. Der Lehrer alter Schule lässt sich durch eine Schülerin, die zwar kaum zählen kann, aber die kompliziertesten Multiplikationen zu lösen weiss, weil sie alle erdenklichen Ergebnisse auswendig gelernt hat, und bei den wildesten Ausführungen in Sachen Philologie nur noch mit «Zahnweh» antwortet, in den nackten Wahnsinn treiben. Hier rennt ein austerbender Vertreter des alten Bildungsbürgertums verzweifelt gegen die Bildungsferne der wohlstandsverwahrlosten Jugend an – ein Akt, der unwiderruflich zum insbrünstigen Mord führen muss.

Bis knapp vor den Abgrund

Düggelin vertraut der Textvorlage, er setzt dem abstrusen Handlungsverlauf nichts entgegen, engt nicht ein, hütet sich aber gleichzeitig vor Übertreibungen. Zielsicher und überaus virtuos führt er den Abend bis knapp vor den Abgrund, hinter dem die Niederungen der plumpen Farce drohen. Dass diese Gratwanderung gelingt, ist nicht zuletzt dem hinreissend aufspielenden Schauspieler-Trio zu verdanken. In jedem Moment des kurzen Abends ist spürbar, dass da Theaterleute zusammengekommen sind, die sich blendend verstehen und gegenseitig zu Höchsleistungen anspornen. «Die Unterrichtsstunde» bietet eine kurze Stunde lang höchstes Vergnügen.

Ach ja. Der eigentlichen «Unterrichtsstunde» vorangestellt ist ein kurzer Prolog: «Die Sonate und die drei Herren» von Jean Tardieu mit dem Untertitel «Wie spricht man Musik». Bereits diese Nonsense-Plauderei würde einen Theaterbesuch lohnen. Auch wenn der Zusammenhang zum Ionesco-Einakter danach nicht ganz schlüssig ist. Aber wie sagt einer der drei Herren: «Vielleicht gab’s gar nichts zu verstehen.»

 

«Die Unterrichtsstunde»

Von Eugène Ionesco

Regie: Werner Düggelin; Bühne: Raimund Bauer; Kostüme: Francesca Merz; Dramaturgie: Fadrina Arpagaus
Mit: Marie Jung, Vinzent Leittersdorf, Nikola Weisse

Weitere Vorstellungen:

Mo 21.11. (mit Publikumsgespräch), Di 22.11., Fr 25.11., Do 15.12., Fr 23.12., Di 27.11., Fr 30.11., jeweils um 20.15 Uhr
auf der Kleinen Bühne des Theater Basel

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