Im Zauberreich der Imagination

Dadaist, Surrealist, Pazifist: Die Fondation Beyeler widmet Max Ernst eine Retrospektive.

Ein Mann mit zahllosen Frauen, ein Citoyen, der nie zur Ruhe kam, und ein Maler, der sich selbst zugute hielt, dass er sich nie gefunden hat: Die Fondation Beyeler widmet Max Ernst eine Retrospektive.

Max Ernst hat es dem gros­sen Publikum unwillentlich nie leicht gemacht. Oder umgekehrt: Im Gegensatz zu den grossen Antipoden Picasso und Duchamp hat er weder von Popularität gezehrt noch den einfachen Kunstgenuss gestört. Er blieb wie ausserhalb von Theorien, obwohl er dem Dadaismus und dem Surrealismus angehörte, und trotz Peggy Guggenheim ausserhalb des Markts. Wie sein Alter Ego «Loplop» vielmehr ein freier Vogel eigenster Gattung in Wäldern, im Dickicht der Städte, in der Wüste von Arizona.

Er verkörperte die «Beständigkeit des eigenen Widerspruchs» mit federnd leichter Souplesse, er verteidigte die eigene «Stillosigkeit»: «Man malt, weil man neugierig ist, und nicht, weil man etwas machen will. Das ist eine höhere Instanz des Automatismus, die einen dazu zwingt. Dabei ist das Erstaunen über das, was zustande kommt, ebenso gross wie zu Beginn», so seine eigene Anleitung. «Ein Maler ist verloren, wenn er sich findet. Dass es ihm geglückt ist, sich nicht zu finden, betrachtet Max Ernst als sein einziges Verdienst», hielt er 1962 in seiner Autobiografie «Wahrheitsgewebe und Lügengewebe» fest.

Kosmos des Ungewissen

Diese ureigensten Qualitäten blieben so lange verborgen, als Stilgeschichte mit Marktgängigkeit einherging. Gerade die amerikanische Nachkriegs-Kunstpolitik operierte mit frühen «Brandings»: Pollock, Newman, Rothko – unter Ausschluss des jeweiligen Frühwerks – bis Andy Warhol, der es zum Markenzeichen stilisierte.

Max Ernst (1891–1976) hingegen offeriert einen Kosmos des Ungewissen, ein Universum von Irritation und leichtfüssigen Rätseln. Er bewegt sich traumwandlerisch im «Wunderbezirk der Welt», wie der ausgewiesene Kenner Werner Spies in seinen jüngst ­erschienenen Erinnerungen «Mein Glück» (Hanser Verlag) darlegt. «Ein Glück» auch, dass die Fondation Beyeler diesen jüngeren Freund, Mitverfasser des Werkverzeichnisses und unzähliger Studien sowie Initiator von Ausstellungen zwischen Paris und New York für eine inspirierende Auslegeordnung gewinnen konnte. Denn wie seine Mitautorin Julia Drost im weitschweifigen Ausstellungskatalog vermutet, bedarf es einer anspruchsvollen Anstrengung, ein vermeintlich kanonisiertes Œuvre des 20. Jahrhunderts erneut mit Erkenntnisgewinn zur Diskussion zu stellen. Dieses soll «durch Erinnerung und Erfahrung Unbewusstes und Verborgenes mit der Vergangenheitund dem Erlebnis des Gegenwärtigen in Kontakt bringen, um daraus Visionen zu imaginieren».

Ernst offeriert ein Universum von Irritation und Rätseln.

Das Werk lädt zu Promenaden im Zaubergarten der Tagträume, des fröhlich Unkontrollierbaren ein, oder wie Spies glänzend suggeriert, in die «dunkle Energie der Disziplinlosigkeit»: «Die Frage nach der Bedeutung einer Szene, eines Attributs, die man gewöhnlich einem Bild stellt, kehrte Max Ernst um. Nicht wir sollten die Bilder nach ihrer Bedeutung befragen, sondern wir müssten zulassen, dass die Bilder an uns die Frage richten, was wir denn eigentlich selbst bedeuteten», berichtet sein Vertrauter Spies. Hier erst winkt der Finderlohn!

Komplex, gebildet, geistreich

Dazu diente diesem Alchemisten bildkünstlerischer Erfindungen ein ganzes Arsenal von neuen Techniken. Die Collage, mit der eine zerstörte, zerstückelte Wirklichkeit künstlich wieder hergestellt wurde, Frottagen und Grattagen als «Abziehbilder» materieller Realitäten wie Fussböden oder die Dekalkomanien als Mittel, verschiedenste Sujets zu vexierbildhaften Einheiten zu verschmelzen. Max Ernst galt nie als «Maler», er hasste jedwelche Perfektion, man bezeichnete ihn eher als «littéraire» und verkannte, dass sich seine Fantasie an Intuition und Zufall nährte, an Belesenheit und musikalischer Neugier bis zu John Cage, und sein Handwerk in der Schere kulminierte, mit der er die akkurat zerschnipselten Holzstiche früher Illustriertenbände zu seinen grandiosen, abgründigen Collagebüchern wie «La semaine de bonté» klebte.

Ernst war ein komplexer, gebildeter und geistreicher, durch und durch europäischer Künstler, der in Köln ein Studium der Kunstgeschichte begann, bei Dada Köln für Aufruhr samt Verhaftung sorgte, aber sich 1922 auf eine Postkarten-Einladung von André Breton bereits nach Paris absetzte, den Surrealismus mitbegründete und eine bemerkenswerte Frau für die nächste verliess; von Ehefrau Luise mit Sohn Jimmy zu Gala Eluard, von der minderjährigen Marie-Berthe Aurenche zur «blutjungen» Leonora Carrington, nicht ohne Affäre mit Meret Oppenheim, der zweimal in ein französisches Internierungslager geriet, bevor er 1941 via Marseille bei Peggy Guggenheim in New York und bald mit Dorothea Tanning in Arizona anlangte. Ein Künstler, der 1964 ins südfranzösische Seillans zurückkehrte und dort sein Spätwerk schuf, unter anderem die «Maximiliana», einen Kurzfilm und ein Mappenwerk, indem er den vergessenen deutschen Astronomen Tempel wiederentdeckte und durch Sternbilder aus Kaligrammen feierte, als wärs seine eigene Lebensgeschichte.

Pazifist, Dadaist, Surrealist

Diese Geschichte, welche die seismografische Aufnahme eines ganzen Jahrhunderts mit zwei totalitären Katastrophen ist: Im Ersten Weltkrieg schwer verletzt, schliesst er sich dem internationalen Pazifismus an und findet nach der dadaistischen Rebellion 1925 zum Segen der «Histoire naturelle», der Friedfertigkeit des Pflanzlichen und den Vergnügungen des Eros, bevor die nächste Bedrohung einsetzt, die sich früh in den «Jardins gobe avions» (Flugzeugfallen) spiegelt, den verlassenen Städten, den Barbaren und Todesengeln oder «Europe après la pluie» (1933), der vorgeahnten zerstörten Geografie seines Kontinents.

Er verkörperte die Beständigkeit des eigenen Widerspruchs.

Dass die mit Leihgaben aus aller Welt hervorragend bestückte Ausstellung und der Essay «Emigration – Verlust und Eroberung» von Werner Spies gerade diesen gewaltigen und gewaltsamen Brüchen nachgehen, wie sie sich in der Bilderwelt eines hellwachen, halluzinativen Künstlers spiegeln, mag den Anspruch einlösen, Visionen zu antizipieren. So gewinnt ein Werk die Sprengkraft des Humanen – und die Welt den Ausblick in einen durchaus möglichen Wunderbezirk.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.05.13

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