In uns allen steckt ein Faust

Bildstark, assoziationswütig und äusserst provokant inszeniert Árpád Schilling Hector Berlioz‘ «La damnation de Faust» am Theater Basel.

Überzeugt auf allen Ebenen, dieser Faust, auch durch das phantasievolle und vielseitige Bühnenbild. (Bild: Hans Jörg Michel)

Árpád Schilling Hector Berlioz‘ «La damnation de Faust» am Theater Basel provoziert Buhrufe, während die überreiche Musik Enrico Delamboye und das Sinfonieorchester Basel mit grosser Strahlkraft erblühen lassen.

Stumm baumeln die frisch geschlachteten Schweinehälften im Takt der Musik hin und her. Eben waren die Tiere noch am Leben, nun sind sie tot. Biologisches Material, das zu Fleisch- und Wursterzeugnissen weiterverarbeitet und bald den Gaumen des Endverbrauchers erfreuen wird.

Wie eine solche Schlachtung vonstatten geht, will eigentlich niemand so genau wissen. Schon gar nicht an einem Opernabend, der musikalisch und optisch ein Genuss sein soll. Der ungarische Regisseur Árpád Schilling, Gründer und Leiter der bekannten freien Theatergruppe Krétakör, und sein Videokünstler Péter Fancsikai zeigen es uns, in Nahaufnahme, auf der Grossbildleinwand. Rotierende Bürsten, spitze Haken, brühend heisse Wasserbecken. Die schwarz-weisse Farblosigkeit rückt die ästhetisch ausgewählten Bildausschnitte zwar in eine künstliche Zwischenebene, doch der Schock ist sitzt. «Buh!», rufen schon jetzt einige Zuschauer, «Andere Bilder!», fordert jemand lautstark. Manche klatschen, einige gehen. Berühren darf Oper scheinbar nur auf angenehme Art.

Verantwortung heisst das Schlagwort

Was dieser Filmausschnitt mit Hector Berlioz‘ 1846 fertig gestellter Légende-dramatique «La damnation de Faust» zu tun hat, mag nicht gleich auf den ersten Blick einleuchten. Auf den zweiten hingegen schon: Verantwortung heisst das zentrale Schlagwort des Inszenierungskonzepts, und es zischt und beisst aus allen Poren. Nicht «was die Welt im Innersten zusammenhält» fragt der von Goethe inspirierte, vom Komponisten aber neu geschriebene Faust, sondern: «Wo auf dieser Welt finde ich, was meinem Leben fehlt?»

Eine durch und durch egozentrische, aber auch durch und durch zeitgenössische Fragestellung ist das – und beides zeigt Schilling mit starken Bildern und Gesten.

Materiellen Mangel kennt dieser Faust nicht. Auf Bambusstelzen steht sein hypermodernes Loft direkt im See; und während er sein morgendliches Vollbad nimmt, sich mit Yoga, Golf und Mails-checken auf den Tag einstimmt, besingt er die Schönheit der Natur. Er ist dem echten Leben entrückt und spürt seine Einsamkeit schmerzlich, als er die Dorfbewohner singen hört. Und während er sich mit Taucherbrille und Schwimmflossen aufmacht, diese menschliche Sphäre zu erkunden, stürzt die Aussicht seiner Glasfassade in die Tiefe des Ozeans.

Erstaunlich phantasievolles Bühnenbild

Schon dieses erste Bild des in seiner Klarheit stechenden, in seiner Wandelbarkeit immer wieder überraschenden und in seiner Vielseitigkeit erstaunlich phantasievollen Bühnenbildes (Márton Ágh) ist gnadenlos überzeichnet. Doch die den Architekturzeitschriften entlehnte Hochglanzästhetik dockt sich an die Wohnträume der Zuschauer an und lässt sie am eigenen Leib spüren, dass Materielles die Sinnsuche nicht befriedigen kann.

Auch die Saufgelage in Auerbachs Keller, in die der fast beiläufig im grau melierten Anzug auftretende, herrlich linkische Méphisto (mit wendigem Bassbariton: Werner van Mechelen) Faust führt, amüsieren den Sinnsuchenden nur teilweise. Er will den Kontakt zu den Menschen, und scheut sich doch, bei ihren Greueltaten mitzutun: Auf den am Boden liegenden Kellner zu urinieren ist nicht das, wonach es Faust gelüstet. Er will die Liebe spüren, die ihm in Gestalt der Escort-Lady Marguerite (verführerisch gespielt und ausdrucksstark gesungen: die Mezzosopranistin Solenn‘ Lavanant-Linke) erscheint.



Doppelter Faust: Als pflegebedürftiger Greis (Urs Bihler) und als Mittvierziger in Lebenskrise (Rolf Romei).

Doppelter Faust: Als pflegebedürftiger Greis (Urs Bihler) und als Mittvierziger in Lebenskrise (Rolf Romei). (Bild: Hans Jörg Michel)

Méphisto verschafft Faust Zugang zu Marguerites Einraum-Appartement in einem sozialistisch anmutenden Plattenbau; doch wohnt Marguerite nicht allein: Ist es ihre Tochter, die Faust zunächst im Schlaf vergewaltigt? Oder ist es das jüngere Ebenbild Marguerites, das sich am Ende der Oper mit dem jüngeren Faust liieren will, der selbst stets in Dreigestalt auftritt: Als pflegebedürftiger Greis, als Mittvierziger in Lebenskrise, als pubertierender Knabe?

Hier ist die Regiesprache nicht eindeutig. Und mag man sich manches Mal darüber ärgern, dass man keine schlüssige Deutung serviert bekommt, so ist es doch nicht mangelnde Stringenz, die hier den Erzählstrang breit werden lässt. Sondern der intellektuelle Anspruch, dieses Werk in ganz verschiedenen Facetten zu betrachten.

Stimmgewaltiger Theaterchor

Damit wird auch der Musik entsprochen, die so überreich an Farben, so extrem an Harmonien, so sprengend in ihren Formen ist – was der stimmgewaltige Theaterchor (Henryk Polus) und das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Enrico Delamboye mit hoher Präzision, detaillierten Spannungsverläufen und strahlender Klangschönheit hörbar machte. Berlioz‘ konzipierte das Werk für eine konzertante Aufführung, und schon das beweist die Bildkraft seiner Musik. Man muss diesen Tönen keine Bühnenhandlung beifügen. Aber man kann. Erst recht, wenn sie im Optischen so ästhetisch, im Erzähltempo so musikalisch, in der Aussage so provokant ist wie in dieser Inszenierung.

Dass Faust mit Marguerite den schnellen Sex sucht, sie trotz Liebesschwur nicht mehr besucht und sie so unfreiwillig zur Muttermörderin werden lässt, dass er selbst im Wissen um Marguerites drohende Hinrichtung zwar seine Seele an den Teufel verkauft, aber nur halbherzig den rettenden Ritt auf dem Steckenpferd absolviert, dass Faust schliesslich in der Hölle kastriert wird und in der Wohlfühlbadewanne sterben darf, während das junge Ebenbild Marguerites im Kreise von zwölf jungen Aposteln beim Abendmahl zurückbleibt, all das mag für die Inszenierung einer romantische Oper des 19. Jahrhunderts ungemein provokant wirken.

Doch es ist endlich einmal eine Inszenierung, die weder altbekannte Bilder bedient, noch sich in einen bedeutungsleeren Poesieraum zurückzieht. Sondern die mutig mit allen Mitteln des Theaters zu unterhalten weiss und Lebenskrise, Lebensrückschau und Lebensunfähigkeit als musikalisches Schauspiel darstellt. Unschlüssiger Premierenapplaus – die Buhrufer hatten die Aufführung schon nach der Pause verlassen.

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Theater Basel. Nächste Vorstellungen: 30.5., 6.6., 9.6., 11.6.

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