48’000 Zuschauer, ein Grund: Die Rolling Stones live. Lebende Legenden. Im Zürcher Letzigrund Stadion luden die Briten zur Reise durch ihre Rockgeschichte und machten dabei einen frischen Eindruck – einzig Keith Richards, der alte Pirat, wirkte ein wenig uninspiriert.
Ein Konzert der Rolling Stones ist eine konfektionierte Wundertüte. Man weiss grösstenteils, was drin steckt («Satisfaction» garantiert) – aber nicht immer, in welcher Zusammensetzung. Mehr als 60 Songs sollen die Briten vor dem Tourneestart in Frankreich geprobt haben. Es sind dann aber doch immer die gleichen dreizehn, vierzehn Nummern, die sie auf die Bühne bringen. Gespickt mit einigen Variablen.
In diesem Fall beginnt das Konzert mit einer Überraschung: Eröffneten die Stones ihre Europatour 2014 bisher mit «Jumpin’ Jack Flash» (wie 2006 schon ihren Gig in Dübendorf), so ertönt in Zürich punkt 20.30 Uhr ein anderes Gitarren-Lick: «Start Me Up»! Welch grandioser Einstieg, welch logischer Auftakt. Wir erinnern uns an den «Achtziger-Aerobic-Clip», sehen Jagger über die Bühne sprinten und hören 48’000 Menschen mit ihm shouten: «Start Me Up»! So bringen sich alle in Laune für die Reise durch die Geschichte dieser Band, die sich oft unbescheiden als die «grösste der Welt» bezeichnet. Mit 52 Jahren auf dem Buckel ist sie auf jeden Fall eine der dienstältesten Combos. Respekt!
Betätigung und Bestätigung
Respekt dafür, dass sie ein weiteres Mal vom Ruhestand in den Tourneemodus gewechselt haben. Nicht weil sie Geld bräuchten (haben sie mittlerweile sicher genug), sondern Betätigung und Bestätigung, Ruhm und Spass. Im Rausch der Glücksgefühle. Kaum zu glauben, aber das Dopamin, das auf der Bühne ausgeschüttet wird, scheint selbst für Keith Richards die einzige grosse Droge zu sein, von der er noch nicht losgekommen ist. «Die Stones verlässt man nur im Sarg oder man wird rausgeschmissen», sagte Richards vor 20 Jahren. Er dürfte es drauf ankommen lassen.
Ein müder Keith Richards
Die Kräfte des 70-Jährigen Überlebenskünstlers scheinen an diesem Abend nicht ganz bei ihm zu sein. Er spielt seine Rhythmusgitarre noch reduzierter als sonst, sein Spiel wirkt immer wieder kraftlos und leicht uninspiriert. Den Anfang von «Brown Sugar» versemmelt er im komplett falschen Tempo, was man ihm ja noch verzeihen würde. Doch seine Unscheinbarkeit irritiert an diesem Abend, man vermisst seine schillernde Präsenz.
Ein Käse für Ronnie Wood
Nicht ganz der «Keef» wie wir ihn kennen und schätzen also. Dafür ist Lead-Gitarrist Ron Wood in fantastischer Spiellaune. Er hat ja auch Grund zum Feiern: Wood wird an diesem Sonntag 67, weshalb ihm seine Bandfreunde einen kiloschweren Schweizer Käse überreichen.
Ein Jungbrunnen namens Jagger
Apropos Schweiz: «Gruzi Zuri» sagt Jagger – wie üblich hat er sich noch rasch einige Fetzen in der Landessprache beibringen lassen. Und gockelt dazu über die Bühne, als sei er auch für den Catwalk geboren. Allerdings tritt Jagger cooler auf als noch vor einigen Jahren. Damals übertrieb er für sein Alter ein bisschen mit seiner Ausdruckstanz-Virilitäts-Kombination.
Diesmal ist seine Performance sehr stimmig, von den Tanz-Schritten bis zur grandiosen Garderobe, die ihn in schillernden Jacken und körperbetonte Longsleeves präsentiert. Wären da nicht die Falten im Gesicht, der drahtige Mann ginge glatt als fitter, rohkostbedachter 18-Jähriger durch! Respekt!
Der Soundtrack zur eigenen Adoleszenz
Apropos 18: An dieses Alter fühlt man sich im Publikum erinnert. So unterschiedlich die Altersklassen im Letzigrund sind, fast alle haben miteinander gemein, dass sie die Stones in ihren Teenage-Jahren für sich entdeckten. Ob heute oder schon vor 50 Jahren.
Dass auch ein Mick Jagger die 70 hinter sich hat, ist kaum zu glauben. Aber ein bisschen herauszuhören bei den Mitsing-Hits «I Know It’s Only Rock’n’Roll (but I Like It)» und «Jumpin’ Jack Flash» – in beiden Songs raspelt und haspelt er die Strophen schludrig runter, atemlos auch. Jagger verlässt sich auf das Publikum, das die Refrains denn auch tatsächlich konsequenter mitsingt als er selber.
Vergebene Wünsche
Eine längere Verschnaufpause erhält Jagger zur Mitte des Sets. Dabei bestätigt sich, dass die Stones noch nicht alle schlechten Gewohnheiten losgeworden sind: Keith Richards darf noch immer ans Leadmikrofon. 10 Minuten, die sich am besten dazu eignen, der eigenen Dehydratation entgegenzuwirken. Ab an die Bar.
Anstelle des langsamen Blues von «You Got The Silver» wäre uns eine veritable Killer-Ballade lieber gewesen, «Wild Horses» etwa oder «Angie». Doch diese Wünsche wurden nicht erhört. Ebenso blenden die Stones ihre psychedelische Ära komplett aus; kein «Paint It Black», kein «Ruby Tuesday» oder «She’s A Rainbow».
Dafür findet sich ihre feine Reminiszenz ans Disco-Zeitalter im Programm: das verführerische «Miss You», das Darryl Jones Raum für ein herrliches Basssolo offeriert hat.
Die zeitlosen Klassiker
Das heisst jetzt aber nicht, dass die Setliste enttäuscht hätte. Nein, sie enthielt viele Live-Klassiker, die man keineswegs missen wollte:
Immer wieder magisch: «Sympathy For The Devil» (Woo-hooo!).
Immer wieder dramatisch: «Gimme Shelter».
Immer wieder hymnisch: «You Can’t Always Get What You Want» (nur schade, dass man das Waldhorn nicht wirklich hörte).
Die grösste Überraschung
Für die grösste Überraschung sorgte die Darbietung eines Lieds, das «Worried About You» heisst und nur eingefleischten Fans vertraut ist. Eine vergessene Nummer aus dem Jahr 1981. Jagger spielt Orgel und singt über zarte Soulakkorde in der Kopfstimme, so wunderbar neckisch, lasziv und mutig, dass man meinen könnte, Prince hätte sich von ihm inspirieren lassen. Im Refrain wechselt er in die kräftige Bruststimme, um gleich wieder mit schrillen «Baby»-Kreischen zu irritieren und zu fesseln. Herrlich, wirklich herrlich! Man muss sich das ungefähr so vorstellen:
Ein heimliches Highlight, das für lauere Momente entschädigt wie das ausgefranste «Midnight Rambler», bei dem der Gast am konzentriertesten schien: Mick Taylor, der 1969 bis 1974 die Leadgitarre gespielt und die Stones stärker dem Blues zugeführt hatte, stach mit seinem virtuosen Solo heraus, in einem Lied, von dem ansonsten keine grossartige Magie ausging an diesem Abend.
Überhaupt diese Gäste – unverzichtbar sind sie, und das seit Jahrzehnten:
- Bobby Keys am Saxofon, seit 1970 mit den Stones auf der Bühne.
- Chuck Leavell, seit über 30 Jahren am Piano und den Keyboards.
- Darryl Jones, seit Bill Wymans Aussteig 1993 am Bass.
- Lisa Fischer, seit 25 Jahren als Backing-Sängerin dabei – und in Stücken wie «Tumbling Dice» oder «Gimme Shelter» unverzichtbare und wunderbar ergänzende Soulröhre an der Seite von Jagger. Dieser aber flirtet im Letzigrund in erster Linie mit dem Publikum, und in zweiter Linie mit Keef: Bei «Let’s Spend The Night Together» beugt sich Jagger zu Richards hinüber und singt ihm den Refrain ins Ohr – Richards schüttelt lächelnd den Kopf und winkt ab. Nein, diese Einladung lehnt er nach all den gemeinsamen Jahrzehnten gerne ab.
Der unermüdliche Taktgeber
Und unser Fazit, am Ende, nach zwei Stunden? It’s more than Rock’n’Roll, and we liked it! Soul, Rhythm’n’Blues, Disco, Blues und Rock: eine satte Mischung. Die Stones warteten in der Schweiz zwar schon mit spektakuläreren Bühnenbauten und Licht-/Visualinstallationen auf, doch lieferten sie – Keith mal ausgenommen – eine gewohnt souveräne Performance, sodass man auch über einige Hänger (hier etwa zu erwähnen: das mässige «Out Of Control») hinwegsah und sich den Ryhthmen hingab, angetrieben vom unermüdlichen Band-Methusalem Charlie Watts am Schlagzeug.
Ihn, diesen Gentleman alter Schule, sollte man noch hervorheben: Watts, der heute Montag 73 Jahre alt wird, pumpt ein zweistündiges Konzert ohne Ermüdungserscheinungen durch – druckvoll, auf den Punkt und groovy. Respekt!
War das ihr letzter Gig auf Schweizer Boden?
War es das nun, ihr letztes Konzert auf Schweizer Boden? Das ist gut möglich.
Hat es sich gelohnt? Aber sicher. So happig die Ticketpreise auch waren (unser Stehplatz: 164 Franken!): Die Frage, die man sich im Vorfeld stellen musste, lautete nicht, ob die Stones zu teuer sind oder nicht. Sondern ob sie einem das Geld wert sind.
Im Nachhinein können wir das mit einem Ja beantworten. Ja, sie sind es uns noch einmal wert gewesen. Vielleicht zum letzten Mal. Ziemlich sicher sogar.