Der Dokumentarfilm «The Wolfpack» erzählt die Geschichte um sechs Brüder, die jahrelang von ihren Eltern in einer kleinen Sozialwohnung eingesperrt waren und die Aussenwelt nur durch Filme kennenlernten. Das ist Stoff für grosses Kino – wäre da nur ein roter Faden.
«This is so obscure that you can’t make this shit up!» rief Regisseurin Crystal Moselle im Januar diesen Jahres in einem Interview mit indiewire aus. Ein paar Tage später sollte ihr erster Film beim Sundance Film Festival eingereicht werden und ihre Worte brachten die Erfolgschancen dieses Films auf den Punkt: So bizarr, so weg von dieser Welt, dass er nicht ausser Acht gelassen werden konnte. So abgefahren, dass der Preis schon so gut wie gewonnen war. Sie sollte recht behalten: Dieser Shit ist so obskur, der kann gar nicht erfunden sein. Und dieser Shit gewann dann auch den Grossen Preis der Jury am Sundance.
Fünf Jahre zuvor lief Moselle die 1st Avenue in ihrer Wohngegend im New Yorker East Village hinunter, als plötzlich sechs Jungs in schwarzen Anzügen und mit rückenlangen Haaren an ihr vorbeistürmten. Die sechs waren eine derart ungewöhnliche Erscheinung, dass Moselle sie ansprach. Es stellte sich heraus, dass sie aus der Gegend waren, was Moselle, die selber viele Jahre im East Village gewohnt hatte, sehr erstaunte. Aber die Jungs interessierten sich für Film und so begann die junge Filmemacherin sich regelmässig mit ihnen zu treffen, in umliegenden Parks, wo sie über Filme diskutierten und Filmmaterial austauschten.
Nach und nach fand Moselle heraus, dass die sechs ungewöhnlichen Erscheinungen ein ebenso ungewöhnliches Leben zu führen schienen: Ihre ganze Kindheit hatten sie zurückgezogen in einer kleinen Wohnung verbracht, sechs Brüder und eine Schwester, unter Ausschluss der Aussenwelt. Ihr Vater hatte ihnen aus Angst vor Drogen und Kriminalität den Zugang zur Welt hinter der Türschwelle verwehrt. Die Mutter unterrichtete sie zuhause und in ihrer Freizeit holten sich die isolierten Kinder die bunte Welt draussen zu sich hinein in die dunkle Stube – jeder Film, den sie in die Finger kriegten, wurde etliche Male geschaut, diskutiert und in selbstgebastelten Kostümen nachgespielt.
«Ich fühlte mich, als wäre ich einem Volksstamm aus dem Amazonas begegnet.»
Das hier war eine Once in a Lifetime-Geschichte, das merkte die junge Filmemacherin sofort. Also dockte sie an die Kinowut der sechs Brüder mit den exotischen Namen Mukunda, Narayana, Govinda, Bhagavan, Krisna und Jagadesh an und begann, sie mit der Kamera zu begleiten. Sie besuchte die Familie Angulo in der kleinen Wohnung im 16. Stock eines Sozialbaus der Lower East Side, lernte die zurückhaltende Mutter und den herrischen Vater kennen und erhielt Einblick in eine Kindheit, die die Welt nur durch einen kleinen Röhrenfernseher-Bildschirm kannte. «Ich fühlte mich, als wäre ich einem verschollenen Volksstamm aus dem Amazonas begegnet», meinte sie später in einem Interview.
Aus ihren Besuchen beim Volksstamm der Angulos entstand schliesslich ein Film, der inhaltlich an die grossen Dokus der letzten Jahre erinnert: «Searching for Sugar Man», wo Regisseur Malik Bendjelloul zusammen mit zwei südafrikanischen Journalisten den in Vergessenheit geratenen Sixto Rodriguez aufspürte oder «The Act of Killing», wo indonesische Massenmörder ihre Taten nachspielen – Filme, die an faszinierender Skurrilität nicht zu überbieten waren und eine Geschichte lieferten, die so unglaublich war, dass sie allein schon einen sehenswerten Film aus den Streifen machte.
Ähnlich verhält es sich mit «The Wolfpack»: Man schaut den Angulo-Brüdern fasziniert zu, wie sie in Kostümen aus Cornflakes-Packungen und Yogamatten Szenen aus «Batman» nachspielen, wie sie sich gegen den Vater und hinter die Mutter stellen, wie sie ins helle Tageslicht treten und verzückt «This is like 3d, man!» rufen. Man denkt sich: Das kann doch nicht wahr sein und dann ist es doch wahr und man ist verzaubert.
Eine gute Story macht noch keinen guten Film
Aber leider nicht für lange. Denn das, was «Sugar Man» und Co. so meisterhaft hinkriegten, ist bei «The Wolfpack» nicht auszumachen, ja, es ist sogar fast so, als hätte sich Crystal Moselle gar keine Gedanken darüber gemacht: Wo bleibt die Erzählung? Denn wenn das erste Staunen verflogen ist, kommen die Fragen: Was haben sich die Eltern dabei gedacht? Wie empfinden die Angulo-Brüder ihre Situation? Wie um alles in der Welt können die so gut mit der Regisseurin quatschen, wo sie doch kaum mit Menschen ausserhalb der Wohnung Kontakt hatten? Und was ist mit all den Missbrauch-Andeutungen, die munter-flockig immer wieder in die Geschichte eingestreut werden?
Fragen, die Moselle zwar aufwirft, aber nicht beantwortet. Sie belässt es bei willkürlich drapierten Szenen und verzichtet auf den roten Faden, der bei dieser unglaublichen Story vonnöten gewesen wäre. Eine gute Geschichte macht noch lange keinen guten Film. Da hilft auch das 20-minütige Sequel nicht, welches das Medienunternehmen Vice kurz nach der Veröffentlichung des Films mit den Brüdern drehte:
«The Wolfpack goes to Hollywood» badet geschickt die Mängel des Films aus. Die Geschichte ist stringenter, der Fokus klar gelegt: Life after the movie. Die Angulos sind in Hollywood angekommen. Oder, etwas gemeiner: Kaum raus aus der dunklen Stube und schon von Vice durch den Stechpalmenwald geschleift. Die Brüder besuchen die Orte ihrer Lieblingsfilme, ein Requisitenlager und ein Maskenstudio, und treffen auf David O. Russell, einen ihrer Lieblingsregisseure: «Wie heisst ihr nochmal? That’s awesome».
Mittlerweile haben zwei der Brüder ihre Namen gewechselt (Krisna und Jagadesh in Glenn und Eddie), vier haben die langen Haare abgeschnitten, einer hat eine Freundin und einer ist ausgezogen. Der Film hat ihnen den Weg vor die Türschwelle geebnet. Oder, etwas gemeiner: Die Geschichte ist erzählt.
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«The Wolfpack» läuft im kult.kino atelier