Auf höchstem Spielniveau eröffnete Branford Marsalis mit seinem Quartet das Jazzfestival Basel.
«Die Melodie alleine erlaubt es einem Werk zu überleben» – dieses Motto hatte Branford Marsalis seiner 2011 erschienenen Duo-CD mit dem Pianisten Joey Calderazzo vorangestellt. Bemerkenswert ist daran zweierlei: Zum einen stammt das Zitat vom klassischen Komponisten Darius Milhaud, zum anderen gehört es für einen Jazzer nicht zwingend zum guten Ton, sich so ausdrücklich auf die Kraft des Melodischen zu berufen. Doch der 51-jährige Sopran- und Tenorsaxophonist, der manchen als musikalisches Chamäleon gilt, hat sich im Laufe seiner nun schon drei Jahrzehnte währenden Karriere gerade durch den lebhaften Kontakt zur Klassik und zum Pop (man denke nur an seine frühe Kollaboration mit Sting) immer als Querdenker hervorgetan. Er hasst jegliche stilistische und chronologische Festlegungen, nährt seine Entwicklung durch Interdisziplin. Das wurde auch beim Eröffnungskonzert des Jazzfestivals deutlich spürbar, bei dem er die Zuhörer im Stadtcasino mit seinem Quartett über die gesamte Strecke in den Bann zog.
Die Feier der Melodie – sie entfaltet sich am prominentesten in der Zugabe, als Marsalis nur noch einmal mit Partner Calderazzo auf die Bühne zurückkehrt: Ein weit ausgreifender, nicht enden wollender Gesang, im Auskosten jedes einzelnen Tons fast ein Kunstlied, in den melancholischen Schleifen an die mit Saudade schwangeren Themen der Brasilianer erinnernd. Und nicht zuletzt auch ein Walzer, der stets über eine bluesige Kadenz zurückgezwungen wird. Marsalis offenbart auf seinem Sopransax dabei einen Ton zum Niederknien, nuancenreich und zart, mühelos, ohne überhaupt ein Atmen erkennen zu lassen. Der Saal hält den Atem an, bevor der lange Schlussapplaus in die Realität zurückholt.
Grandseigneur und Spaßvogel
Zuvor, im Löwenanteil des Abends, agiert natürlich die Viererbesetzung. Das neue Line-Up des Branford Marsalis Quartets ist ein Glücksfall, und dieser nährt sich aus den so verschiedenen Bühnenpersönlichkeiten. Die vornehme, souveräne Grandseigneur-Art des Leaders, der in seinen Spielpausen stets sofort ins Dunkel verschwindet, findet einen grandiosen Widerpart im Pianisten Calderazzo: ein Spaßvogel, der auch in lyrischsten Momenten schelmisch dazwischenkrächzen kann, sich lässig auf seinem Drehstuhl abstützt während die linke Hand Begleitfiguren spielt. Der long time companion Eric Revis am Bass wiederum, ein ehrlicher, aufrichtiger, unspektakulärer Arbeiter kontrastiert mit dem Heißsporn Justin Faulkner an den Drums, der stets mit überbordendem Körpereinsatz zugange ist und dessen ungezähmte Energie seiner 21 Jahre fast beängstigt: Er sucht noch nach dem maximalen Ausdruck, setzt immer noch einen virtuosen Sidekick drauf, doch die Pferde gehen nie mit ihm durch.
Pastellfarbener Morgen
Zurück zur Melodie: Schon wie das übermütige Eröffnungsstück «The Mighty Sword» – man kann es kaum anders sagen – hereinpurzelt, zeugt von großer Lust am Erfinden herausragender Themen. In vollmundigen Sextparallelen ergehen sich Sax und Flügel, und als Calderazzo und Marsalis zu ihren ersten Soli ansetzen, ist klar, dass auch Improvisation hier nicht zum Selbstporträt des Könnens degradiert wird. Keine überflüssigen Notenketten produzieren die beiden, jeder Ton ist ein Individuum, der mit klarer Diktion vorgestellt wird. Was natürlich erst recht für das sich anschließende, langsame «Maestra» gilt, eine bezwingende Klangmalerei: Calderazzo koloriert auf seinen Tasten einen pastellfarbenen Morgenspaziergang an einem Fluss, so könnte man meinen, zieht das ganze große lyrische Register, lässt es in hohen Tremoli ekstatisch glitzern. Spannend ist es, gerade hier den jungen Justin Faulkner zu beobachten: Er muss seinen Überschwang zähmen, und überträgt diesen in fast pantomimische Gesten, während er feinfühlig den Besen führt, ab und zu Rimshots setzt.
Marsalis führt seine Mitstreiter danach in eine kleine Stilkunde des Jazz: In Monks neckischem und sprunghaften «Teo» führt er geistreich auf dem Tenorsax vor, was man aus einem ursprünglich minimalistischen Thema entwickeln kann. Und hier zeigt sich auch, dass Eric Revis, der über den Abend verteilt immer wieder inspirierte, sangliche Soli einflicht, nicht zu unterschätzen ist: Auf seinem leider etwas matschig abgemischten Bass arbeitet er sich hier mit einem glänzend ausgestalteten Walking Bass-Solo hervor, bevor Faulkner eine eruptive, fast tribale Coda liefert. Marsalis setzt noch eine Tenor-Sternstunde drauf: «Endymion» aus seiner eigenen Feder lehnt sich weit in die Epoche der balladesken Jazzstandards zurück, er horcht stolz dem Ton nach, den sein Instrument im Saal produziert, überragend voll und kräftig, nie gepresst. Doch es ist signifikant für Marsalis‘ Philosophie, dass kein eigentliches Jazzstück den Höhepunkt des Abends liefert.
Dunkle Melancholie
Mit scheinbar endlosem Atem führt er in eine dunkle, slawisch anmutende Melancholie hinein, von Calderazzo in einem versunkenen, abwärtsführenden Motiv aufgefangen. Es ist seine Adaption von «The Old Castle» aus Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung», vor einem Vierteljahrhundert bereits hatte er sie mit dem English Chamber Orchestra eingespielt. In der Quartet-Fassung entsteht noch ein faszinierender Sog, das Sopransax nimmt die Gestalt einer klagenden Frau an, die von den Zinnen dieses Schlosses heruntersingt. Und schließlich, wie aus dem Nichts, schmerzhafte Verzweilflungsschreie, mit einem unglaublich physischen Ganzkörperausbruch von Faulkner unterlegt. Dass nach dieser gewaltigen Dramatrugie nochmals zu Ellingtons «It Don’t Mean A Thing» zurückgeführt wird, ohne Bruch, kann sich nur ein Quartett von dieser Weltklasse leisten. Ohne den Swing, so sollte das wohl heißen, geht es auch bei den besten Melodikern eben nicht.