Kinder übernehmen die Macht

In der Kaserne Basel gastiert das Tanzstück «enfant» von Boris Charmatz – ein Erfolgsstück, das über das Genre Tanz weit hinausgeht.

Kleine Kinder, scheinbar willenlos vorgeführt – ein Grund für Empörung? (Bild: zVg )

In der Kaserne Basel gastiert das Tanzstück «enfant» von Boris Charmatz – ein Erfolgsstück, das über das Genre Tanz weit hinausgeht.

Mit «enfant» hat der französische Choreograf Boris Charmatz Furore gemacht – 2011 am Festival d’Avignon uraufgeführt, hat ihn die Zeitschrift «Tanz» in der Folge zum Choreografen des Jahres 2012 erkoren. Trotzdem, das Stück muss man nicht mögen. Es hat die Geister gespalten wie lange kein anderes zuvor. Bejubelt, weil mit «enfant» angeblich eine ganz neue Form von Tanz und Theater gefunden worden sei. Und aufs Schärfste kritisiert, weil Kinder darin instrumentalisiert würden. Neben einer Maschine und neun Tänzerinnen und Tänzern spielen auch zwölf Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren mit. Die Wahrheit liegt wie immer im Auge des Betrachtenden, zwischen Seherfahrung und subjektiver Schaulust. Harmlos ist das Stück jedenfalls nicht, und das macht es schon mal interessant.

Wie an einem Fleischerhaken hängen anfangs zwei Tänzer an einem Kranseil. Schlaff baumeln ihre Glieder an ihnen herunter als wären sie tot, während die Roboter-Maschine hin und her surrt und die beiden Menschen eigenmächtig hochzieht und wieder auf dem Boden ablegt. Ein dritter liegt auf einem Rollband, das sich nach hinten zu einer Halfpipe hochschwingt. Nicht lange, und der Untergrund beginnt zu rattern und schüttelt die drei Tänzer unter diabolischem Getöse durch und wach.

Schlafende, schreiende Kinder

Die Kinder, die jetzt von weiteren Performern auf die Bühne getragen werden, schlafen ungeachtet des Lärms vertrauensvoll in deren Armen. Aus Gummi scheinen ihre kleinen Körper zu sein, formbar und willenlos. Und tatsächlich werden sie wie Puppen geführt, manchmal von zwei Spielerinnen gleichzeitig zu Skulpturen arrangiert. Eine Tänzerin trägt eines der Kinder wie eine Jagdbeute über die Schultern geworfen, während ein Mann seinen Kopf unter das T-Shirt eines anderen Schlafenden schiebt – die Kinder als manipulierbare Masse. Hier sind sie, die Aktionen auf dem schmalen Grat zwischen (angedeutetem) Missbrauch und elterlicher Dominanz, die manche Zuschauer empört haben.

«enfant» ist zwar eine bestechende Idee mit vielen ausserordentlichen Momenten, verzettelt sich aber in manchen Sequenzen in formlosem Gewusel.

Nicht lange und die Kinder öffnen die Augen, imitieren die Erwachsenen um sie her, übernehmen deren Bewegungsvokabular, marschieren ebenso wie stramme Bleisoldaten, stampfen und schreien wild. Das Ganze scheint aus dem Ruder zu laufen. Die Meute folgt einem Dudelsackpfeifer und dessen anfeuernden Klängen, als ginge es in den Krieg. Am Ende übernehmen die Kinder die Herrschaft, kneten jetzt ihrerseits die erschöpft auf dem Boden liegenden Erwachsenen nach Belieben.

Auch hier zeigt sich eine wunderbare Ambivalenz: die Kleinen einerseits als vorprogrammierte Vollstrecker, als boshafte Biester; andererseits ermächtigen sie sich selbst und gehen einen anderen Weg als die Elterngeneration. Der rattenfängerische Musiker wird kurzerhand mit einer Schlinge an der Maschine befestigt und symbolträchtig entsorgt.

Lärm und Stille

Rabenschwarze Themen in einem schwarz gehaltenen Dekor bis hin zu den Kostümen. Neben ohrenbetäubendem Lärm schafft Charmatz immer wieder auch stille Momente, strukturiert und choreografiert. Erstaunlich der Weg dieses Künstlers, der einst in der Kaderschmiede der klassischen Ecole de Dance, in der Tanzschule der Pariser Oper, an der Ballettstange stand. Bei allem Respekt für diese kluge Arbeit, die «Freund wie Feind» nachhaltig bewegt: Mit dem, was man landläufig unter der Kunst des Tanzes versteht, hat diese Arbeit wenig zu tun.

Muss sie auch nicht, könnte man erwidern, wenn im Resultat ein packendes «Gesamtkunstwerk» herauskommt. «Enfant» ist zwar eine bestechende Idee mit vielen ausserordentlichen Momenten, verzettelt sich aber in manchen Sequenzen in formlosem Gewusel. Das wilde Gerenne über die Bühne verschleudert die inhaltliche Energie anstatt sie tiefer zu verankern, und der «Materialaufwand» scheint in keinem Verhältnis zur Wirkung zu stehen. Wäre da nicht die archaische, triumphale und auch rührende Kraft der Kinder, das Stück hätte sich nicht in diesem Masse durchgesetzt.

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«enfant» wird in der Kaserne Basel noch zweimal aufgeführt: Am Mittwoch, 4.12., und am Donnerstag, 5.12., jeweils um 20 Uhr.

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