Kinderschreie im Erdbeerwald

Das Theater Basel bringt Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel» explizit als Kinderoper auf die Bühne. Ein musikalisch rasanter Nachmittag mit grossen Stimmen und intensiven Bildern.

Die Kritikerin ist begeistert von den jungen Sängerinnen und Sängern aus dem Basler Opernstudio «OperAvenir»: «Sie singen allesamt mit grossen Stimmen.» (Bild: Simon Hallström)

Das Theater Basel bringt Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel» explizit als Kinderoper auf die Bühne. Ein musikalisch rasanter Nachmittag mit grossen Stimmen und intensiven Bildern.

Es dauerte nicht lang, bis die ersten Kleinkinder quengelten und mit ihren Müttern den stockdunklen Saal im Basler Schauspielhaus verliessen. Die Musik war laut, die Stimmen der Sängerinnen von grossem Format. Auch ein schick gekleidetes Paar flüchtete, hatte wohl eine «richtige» Oper erwartet.

Ja, was ist eine richtige Oper? Und was traut man Kindern zu, will man sie für diese Kunstform nachhaltig begeistern?

Als die Oper «Hänsel und Gretel» 1893 in Weimar uraufgeführt wurde, bescherte sie Engelbert Humperdinck seinen grössten Erfolg – beim Erwachsenenpublikum natürlich. Ein «Märchenspiel in drei Bildern» nannte der Komponist sein Werk; und später, als das eigentliche Zielpublikum ausgemacht war: Kinderstubenweihfestspiel – in ironischer Anspielung auf Richard Wagners Bühnenweihfestspiel «Parsifal».

Unzumutbar brutal – eigentlich

Doch es ist nicht selbstverständlich, dass das Märchen von den Geschwistern Hänsel und Gretel heute in einem Programm für Kinder zu finden ist. In vielen modernen Kindermärchensammlungen fehlt diese Geschichte. Nicht ohne Grund: Die hier verhandelten Themen gelten den meisten Eltern und Pädagogen als unzumutbar brutal. Hänsel und Gretel sind so arm, dass sie tagein tagaus nur trockenes Brot zu essen bekommen und schliesslich von der eigenen Mutter in den Wald gejagt werden, um Beeren zu sammeln. Dass sie dabei von einer Hexe gefangen genommen werden, die sie bei lebendigem Leib backen und verspeisen will, nahm schon mancher Regisseur zum Anlass, Kindesmissbrauch und Kannibalismus auf der Bühne zu zeigen – in Basel zuletzt Nigel Lowery, der 1997 mit seiner schonungslosen Inszenierung das Publikum spaltete.

Die problematischen Elemente dieses Märchens umschifft die neue Inszenierung von Ulrike Jühe elegant. Hier sind Hänsel und Gretel akkurat gekleidet, tragen Filzjacken von zartem Wollweiss, die aussehen, als hätten sie nie ein Staubkorn gesehen. Ihr Abenteuer im fein stilisierten Wald (Bühne und Kostüme: Marianna Helen Meyer) wird begleitet und behütet vom umsichtigen Sandmännchen (Sunanda Heuberger), das schmackhafte Erdbeeren an den Wegesrand streut und weiche Schlafdecken bereit hält. Die kinderfressende Hexe hat weder einen Buckel noch eine Warze auf der Nase, sondern scheint als kunterbuntes Fabelwesen einem modernen Comic entsprungen. Und der todbringende Backofen ist fast unsichtbar – ein farbig dampfendes Loch in der Bühne, in welches das Hexenwesen ganz plötzlich selbst hineinfällt.

Die problematischen Elemente dieses Märchens umschifft die neue Inszenierung von Ulrike Jühe elegant.

Dass die Kinder – die auch in der von uns besuchten zweiten Vorstellung am Sonntagnachmittag zahlreich erschienen waren – den manchmal altertümlich wirkenden Text über längere Episoden verstehen, ist unwahrscheinlich – schliesslich wird in dieser durchkomponierten Oper kein Wort gesprochen, sondern alles gesungen. Doch gerade das macht den Reiz dieser Produktion aus: Sie ist kein pädagogisch motiviertes Education-Projekt, kein weich gepolsterter Liederkreis, sondern eine nur minimal gekürzte Variante einer Oper, die auch auf den grossen Bühnen zu sehen ist.

Alles, was eine «richtige» Oper braucht

Die jungen Sängerinnen und Sänger aus dem Basler Opernstudio «OperAvenir» singen allesamt mit grossen Stimmen: Lilia Tripodi mit warmem Alt als wankelmütiger Hänsel, Andrea Suter mit hellem, feinem Sopran als quirlige Gretel, Maria Gessler mit voluminösem Mezzosopran als erschöpfte Mutter, Ashley Prewett mit tiefem Bariton als besorgter Vater, Markus Nykänen mit heldenhaftem Tenor als Hexenwesen. Sie alle wurden begleitet von einem äusserst wendigen, sehr lebhaft aufspielenden Bläserensemble mit Klavier, das unter der sichtbar engagierten Leitung von Rolando Garza eine reizvolle kammermusikalische Atmosphäre erzeugte – bei den entscheidenden Momenten aber auch zu furchteinflössender Lautstärke anwachsen konnte.

Eine «richtige» Oper also, mit dramatischer Musik, mit gefährlichen Szenen, mit farbenstarken Bildern und mit einem Happy End. Für Kinder – und für Erwachsene. Lang anhaltender, rhythmischen Applaus für dieses junge, vielversprechende Gesangsensemble.

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