Meret Oppenheim wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Zeit für eine Einordnung der berühmtesten Künstlerin der Schweiz.
Es gibt dieses berühmte Porträt von Meret Oppenheim: Ein mit Sprayfarbe bearbeitetes Foto, das ihr Gesicht zu einer Art Totempfahl stilisiert. Das Muster ist ihr aufs Fotopapier-Gesicht gebrannt und trotzdem scheint es, als befände sich die wahrhaftige Meret hinter dem ganzen Dekor: Das Gesicht ist entspannt und schert sich nicht um die auffälligen Muster. Der einzig ruhelose Punkt darin ist Meret Oppenheims Mund: Seine Winkel sind nur minimal nach unten gezogen, ein vermeintlich unscheinbarer Ausdruck, der zwischen Häme und dezidiertem Vergnügen balanciert.
Diesem Mund wohnt das Wesen Meret Oppenheims inne. Er ist die «Spur durchstandener Freiheit», von der Bice Curiger im gleichnamigen Buch spricht – eine Spur, die in ihrer verspielten Amüsiertheit überheblich und ernsthaft zugleich wirkt. Es ist die Spur einer Frau, die sich stets die Freiheit nahm, die Richtung ihres Lebensweges selbst zu bestimmen.
Meret Oppenheim kommt 1913 in Berlin zur Welt und zieht nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihrer Familie zu den Grosseltern in den Berner Jura. Dort wächst sie in einem Künstlermilieu auf, geprägt von ihrer Grossmutter Lisa Wenger, die später das populäre Kinderbuch «Joggeli söll ga Birli schüttle» illustriert.
Mit Pernod nach Paris
Nach dem Krieg zieht die Familie ins süddeutsche Steinen. Gegen Ende der Schulzeit verkündet sie ihrem Vater, sie wolle Malerin werden. Auf dessen Vorschlag hin, zur Ausbildung entweder nach München oder Paris zu gehen, entscheidet sie sich für die französische Kunstmetropole.
1932 fährt sie in Begleitung ihrer Freundin Irène Zurkinden los. Im Zug trinken sich die beiden jungen Frauen einen Pernod-Rausch an und gehen nach der Ankunft schnurstracks ins Café du Dôme, eines der wichtigsten Künstlerlokale der Stadt.
Die Kaffeehäuser werden zu Merets liebsten Aufenthaltsorten – sie interessiert sich nicht für die konformen Akademien und langweilt sich in den institutionalisierten Einrichtungen, die ihr wenig über die Welt beizubringen scheinen. Viel lieber bewegt sie sich durch die zahlreichen Lokale, in denen die Intellektuellen die Köpfe über Bistrotischen zusammenstecken und mit Zigaretten und Pastis das Schicksal der Welt bereden.
Und Meret redet mit: Die selbstbewusste Künstlerin wird schnell in den Kreis der Surrealisten um den Schriftsteller André Breton aufgenommen und beteiligt sich ab 1933 an Ausstellungen im «Salon des surindépendants» (der «Überunabhängigen»), in dem unter anderem auch Georges Braque und Marcel Duchamp ihre Arbeiten zeigen.
Unmut in Basel
Obwohl Oppenheim in Paris lebt und fest verankert ist, findet ihre erste Einzelausstellung in Basel statt: 1936 zeigt sie in der Galerie Marguerite Schulthess in der Aeschen-Vorstadt ihre Arbeiten. Das wichtigste Objekt der Ausstellung, «Ma Gouvernante, My nurse, Mein Kindermädchen», das aus ein paar weissen Stöckelschuhen besteht, die zu einer truthahnähnlichen Figur zusammengebunden sind, stösst bei den Besuchern auf Unverständnis. Ein Kritiker schreibt: «Wo das Objekt beginnt, hört die Kunst auf …». Basel ist noch nicht bereit für die Surrealistin, die nicht ohne Grund immer noch in Paris wohnt.
In der französischen Hauptstadt kommt ihr denn auch kurz darauf die Idee, die sie zur berühmtesten Vertreterin des Surrealismus machen sollte. Um Geld zu verdienen, arbeitet Oppenheim an Schmuck- und Modeentwürfen. Dazu gehören auch Armbänder für das Modehaus Schiaparelli, die sie mit Fell beklebt. Als sie eines Tages im Café de Flore auf Picasso trifft, bemerkt er den pelzigen Reif, lacht und merkt an, man könne ja alles mit Pelz überziehen.
Das «Frühstück im Pelz»
Kurze Zeit später wird sie von André Breton für einen Beitrag zu einer Ausstellung angefragt und erinnert sich an den Zwischenfall mit Picasso. Sie kauft ein billiges Set mit Tasse, Unterteller und Löffel und überzieht es mit einem Gazellenfell. Breton nennt es «Déjeuner en fourrure», in Anlehnung an Manets «Déjeuner sur l’herbe». Der Rest ist Geschichte: Das Pelz-Ensemble wird in der Galerie Cahiers d’Art ausgestellt und von Alfred Barr, dem Direktor des damals noch jungen Museum of Modern Art, für die Sammlung gekauft. Die Tasse gelangt auf diesem Weg nach New York, wo sie zum surrealistischen Objet par excellence erklärt wird, ohne dass die Amerikaner sich für ihre Herkunft interessieren, geschweige denn wissen, wer das bizarre Geschirr eigentlich gemacht hat. Bis heute wird in Amerika oft angenommen, der «Künstler» der Pelztasse sei ein Mann.
Etliche Jahre später fordert ein Galerist Meret Oppenheim auf, Editionen der Pelztasse zu fabrizieren. Die Künstlerin reagiert schnippisch und gibt stattdessen ein «Souvenir» der Pelztasse heraus, einen unter bombiertem Glas gefassten Kitschteller mit falschen Edelweissen. Lieber gibt sie ein Kitschobjekt heraus, als dass sie die eigene Arbeit kommerzialisiert. Oppenheim hätte sich mit Zusatzauflagen der berühmten Pelztasse ein paar Jahre Lebensunterhalt sichern können. Sie verzichtet darauf: Die Tasse mit dem Antilopenfell bleibt ein Unikat.
Als der Krieg ausbricht, entscheidet sich die Künstlerin, Paris zu verlassen. Sie zieht nach Basel und richtet sich in einem Zimmer über der Garage im Haus ihrer Grosseltern im Klingental ein. Bereits in Paris leidet sie an Depressionen, und mit ihrer Rückkehr nach Basel beginnt eine lange Krise. Ganze 17 Jahre dauert das schwarze Loch, es entstehen schwermütige Arbeiten wie die gestrandete «Steinfrau», ein Bild, das eine aus Steinen zusammengesetzte Figur in Stöckelschuhen zeigt, die an einen Strand gespült wird. Die menschlichen Füsse deuten den Hauch Leben an, der in der Künstlerin vorhanden bleibt. Um 1954 ist Meret Oppenheims Krise von einem Tag auf den anderen beendet – als ob die Künstlerin ganz einfach nur ein paar Jahre der Dunkelheit gebraucht hätte.
Blühende Kreativität in Bern
In der Zwischenzeit ist sie mit dem Basler Wolfgang la Roche verheiratet und nach Bern gezogen. Erlöst von der Depression erfährt sie einen kreativen Schub: Es entstehen Werke mit Himmel- und Traumbezügen, die sich weit weg von den freudlosen Arbeiten der 40er-Jahre bewegen. Oppenheim lässt sich von der lebendigen Hauptstadt inspirieren, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine kulturelle Blütezeit erlebt: Mani Matter und die Berner Troubadours singen ihre Chansons in den Lauben, Christo verpackt die Berner Kunsthalle und ein stillgelegtes Gaswerk wird von Jugendlichen in den Veranstaltungsort Gaskessel verwandelt.
In den folgenden Jahren hat Meret Oppenheim Ausstellungen in der ganzen Welt. Sie nimmt an der documenta 7 in Kassel teil und erhält 1982 den Berliner Kunstpreis. Ein Jahr später entsteht ihr Brunnen auf dem Waisenhausplatz in Bern.
1985 ist sie für eine Ausstellung zu ihrem bibliophilen Projekt «Caroline» in der Galerie Fanal wieder in Basel. In der Nacht vor der Vernissage erleidet die 72-Jährige plötzlich einen Herzinfarkt und wird ins Spital gebracht. Sie erklärt dem behandelnden Arzt, er werde sie am nächsten Tag wohl nicht mehr lebend antreffen.
Sogar als es um den eigenen Tod ging, wollte Meret Oppenheim also entscheiden, wo es langgeht. Als hätte sie ihr Leben samt seinem Ende durchschaut, starb die Künstlerin mit den unerbittlichen Mundwinkeln tatsächlich am nächsten Tag an einem zweiten Herzinfarkt.
Während das Wiener Austria-Bank-Forum und der Martin-Gropius-Bau in Berlin Meret Oppenheim zu ihrem 100. Geburtstag fulminante Retrospektiven widmen, ignorieren die Schweizer Museen das Jubiläum weitgehend. Wer in diesem Jahr trotzdem nicht auf das Geburtstagskind verzichten möchte, begibt sich nach Basel: Der Kunsthistoriker und Kurator Simon Baur hat mit der Künstlerin Silvia Buol ein vielseitiges Programm zusammengestellt, das ab Mitte August bis Oktober mit zahlreichen Anlässen, Performances, Künstlergesprächen und der Ausstellung «Das Geheimnis der Vegetation» der Künstlerin gedenkt. Den Anfang machte die Einweihung des Meret-Oppenheim-Brunnens im Park des Tinguely Museums Mitte Juli.Weitere Informationen und eine Veranstaltungsagenda gibt es auf der Webseite des Projekts.
Meret Oppenheims Nichte Lisa Wenger veröffentlichte mit «Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln» jüngst die zahlreichen Briefwechsel ihrer Tante. An der diesjährigen Art Basel stellte sie die Publikation vor:
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.07.13