Kultwerk #116: Sansibar oder der letzte Grund

Alfred Anderschs Roman ist ein Klassiker der Schullektüre, den man auch heute noch gerne liest.

Verstaubt: Was fürs Buchcover gilt, gilt nicht für den Inhalt von Alfred Anderschs Roman.

Alfred Anderschs Roman ist ein Klassiker der Schullektüre, den man auch heute noch gerne liest.

Freiheit. Danach streben wir doch alle, wenn wir sie nicht schon haben. Auch die Protagonisten in Alfred Anderschs ­Roman «Sansibar oder der letzte Grund». Da ist der Junge, der unbedingt weg will aus der kleinen Hafenstadt Rerik, wo alle seinen Vater einen Säufer nennen. Da ist Judith, die Jüdin, die vor den Nazis fliehen muss. Da sind Gregor, der Kommunist, der gerne desertieren würde; Helander, der Pfarrer, der sich in seiner Kirche nicht mehr wiederfindet; und Knudsen, der ­Kapitän mit seiner ­kranken Frau, die ihn an Rerik fesselt. Und da ist eine kleine Holzfigur, der ­«Lesende Klosterschüler», die von den Nazis zerstört werden soll.

Anderschs Roman spielt im Jahr 1937 und erschien 20 Jahre später. Der Autor war kein Freund der Nazis gewesen, kein Freund des Krieges. Manche warfen ihm später allerdings vor, «Sansibar oder der letzte Grund» sei zu versöhnlich mit der Vergangenheit umgegangen. So nennt Andersch nicht alles explizit beim Namen: Die Nazis etwa heissen «Die Anderen», der Nationalsozialismus nimmt erst am Ende des Romans ein Gesicht an, als Uniformierte die Wohnung des Pfarrers Helander stürmen. Trotzdem hat ­Andersch mit seinem Buch etwas riskiert – es erschien, als es in der deutschen Literatur noch kaum eine Reflexion über die NS-Zeit gab.

Lesen ist gefährlich

Auch die Protagonisten des Buches riskieren etwas, um die ersehnte Freiheit zu erlangen. Knudsen soll den «Kloster­schüler» auf das Drängen des Pfarrers hin nach Schweden bringen. Gregor möchte, dass er auch gleich Judith in Sicherheit bringt. Und der Junge, der bei Knudsen auf dem Schiff ­arbeitet, sieht in der Fahrt seine Chance, nach Sansibar zu gelangen, das hinter dem Meer liegt, wie er in einem Buch gelesen hat.

Er liest viel und alles, der Junge, das hat er mit dem «Klosterschüler» gemein. «Weil er alles liest, was er will, soll er eingesperrt werden», sagt Judith an einer Stelle über die Plastik. Meinungsfreiheit – auch sie gehört zur Freiheit. Für alle Verfolgten hat Andersch in seinem Roman, der eigentlich eine Parabel ist, einen Stellvertreter gefunden. Und alle finden sie am Schluss des Buches die Freiheit – ob real oder innerlich.

Alfred Andersch
Am 4. Februar 1914 in München ­geboren, starb der Schriftsteller 1980 in Berzona im Tessin. 1933 wurde ­Andersch wegen seiner politischen ­Aktivität im Kommunistischen Jugendverband im KZ Dachau interniert, später zum Wehrdienst verdonnert. Nach seiner Desertion 1944 verbrachte er über ein Jahr in US-Kriegs­gefangen­schaft. Andersch zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen ­Nachkriegsliteratur, seine ­Bücher sind längst Schul­lektüre – so auch «Der ­Vater eines Mörders».

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 07.02.14

Nächster Artikel