Mit Rockpsalmen stiegen U2 vor 25 Jahren zur grössten Band der Welt auf.
Ich war 13 Jahre jung, als meine Mutter einer Studentin aus den USA einige Tage Gastrecht gewährte. Die junge Frau fragte mich, welche Musik ich hörte. Ich zeigte auf meine drei Kaufkassetten: Eurythmics, Depeche Mode und Michael Jackson. Sie sagte: «Nice, but …» – und drückte mir ihren Walkman in die Hand: «Do you know U2?» Ähm … wollte sie wissen, ob ich mich selber kannte? Natürlich nicht.
Pazifistische Grundwerte
Als Teenager war ich mir selbst ein Rätsel, wurde regelmässig von Melancholieschüben erfasst, die sich nicht an konkreten Ursachen festmachen liessen. «No», sagte ich und meinte: «Ich kenne mich nicht.» Sie blickte mich entgeistert an, reichte mir die Bügelkopfhörer und drückte die Play-Taste. «Dann hör dir das an», sagte sie und textete mich euphorisch zu: Vermutlich mit Infos, dass U2 ein Quartett aus Dublin sei, das schon auf früheren Platten mit treibenden Hymnen wie «Sunday Bloody Sunday» oder «Pride» seine pazifistischen Grundwerte vermittelt hatte und auf diesem fünften Album seine ambivalenten Gefühle, die der Mythos Amerika auslöste, zum Ausdruck brachte.
Glockige Gitarrenklänge
Was immer sie sagte: Ich verstand es nicht. Zu schlecht mein Englisch, zu stark das Crescendo. Ein stampfendes Schlagzeug und ein Bass gaben den Takt zur Kopfreise an, glockige Gitarrenklänge mit Delay-Effekten liessen mich abheben. Ein Sänger schliesslich nahm mich bei der Hand und führte mich mit meiner Sehnsucht an einen Ort «Where The Streets Have No Name». Ich war im siebten Himmel. Herrlich auch das nächste Psalm («I Still Haven’t Found What I’m Looking For»), ganz zu schweigen vom dritten Lied: «With Or Without You».
Ich zog eine Kopie und hörte das Band durchsichtig, bis es riss, kaufte mir daraufhin die CD und, vor fünf Jahren, schliesslich die Deluxe-Version dieses Rock-Evangeliums. Noch heute elektrisiert mich U2s künstlerische Auseinandersetzung mit einem Amerika, das für Freiheit, Hoffnungen und Träume stand und das diese gleichzeitig zerstörte, indem es in El Salvador kleine Dörfer bombardierte – weshalb Gitarrist The Edge in einem weiteren sensationellen Song namens «Bullet The Blue Sky» das amerikanische Kriegsgedonner Musik werden liess. Zum Mitheulen schön.
Das gesamte Album kann man hier am Stück anhören.
Anton Corbijn, der Hausfotograf von U2, reiste 1986 drei Tage lang mit der irischen Band in die kalifornische Wüste. Dabei stiessen sie auf eine Palmlilie («Joshua Tree»), die dem Album den Namen gab und die Plattenrückseite zierte. Dass der Baum im Jahr 2000 abgestorben und umgefallen ist, hält U2-Fans nicht von Pilgerfahrten ab: Eine im Boden eingelassene Gedenktafel mit dem Schriftzug «Have You Found What You Are Looking For?» erinnert heute noch an diesen allein stehenden Baum.
- In dieser Rubrik stellen wir jeweils ein Kultwerk vor, das in keiner Sammlung fehlen sollte.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12