Vor 30 Jahren starb Rainer Werner Fassbinder. Anlass, an einen seiner Schlüsselfilme zu erinnern.
«Es geht um Gefühle.» Mit diesem Satz begann Rainer Werner Fassbinder seine allererste grosse Pressekonferenz. Damals war er 24, als er 1967 auf der Berlinale seinen ersten Langfilm «Liebe ist kälter als der Tod» vorstellte. Nur vier Jahre später konnte er bereits auf sechzehn Spielfilme und zwei Fernsehserien zurückblicken. Niemand dürfte ihm wohl allein diese Produktivität je nachmachen, doch viel entscheidender ist, wie nahe er in diesen Jahren seinem Kino-Ideal gekommen ist: Bei «Angst essen Seele auf» (1974) musste er niemanden mehr auf den Gefühlsgehalt hinweisen – obgleich dieser ohne jenes sentimentale Beiwerk auskam, das man für gewöhnlich mit einem Melodram verbindet.
Die Liebesgeschichte zwischen einer etwa 60-jährigen Putzfrau und einem um zwei Jahrzehnte jüngeren Marokkaner braucht keine Übertreibung. Peer Rabens hauchzarte Filmmusik zum Beispiel erklingt nur jeweils für ein paar Sekunden und bleibt dennoch unvergesslich. Mit der Hauptrolle hatte Fassbinder die bis dahin als Künstlerin wenig beachtete Volksschauspielerin Brigitte Mira beschenkt, sie dankte es ihm ihr Leben lang. Intuitiv vermittelt sie jene menschliche Wärme, die der «Gastarbeiter» Ali (El Hedi Ben Salem) ansonsten vergeblich im angeblich weltoffenen München sucht. Aber ebenso ungezwungen wie über ihre Liebe spricht die Frau auch über ihre frühere Bewunderung für Hitler.
Es gibt keine Engel in Fassbinders Idee vom Melodram, das er aus Hollywoods Geigen-verhangenen Himmeln herab auf den Brecht’schen Boden holt. Von seinem Idol Douglas Sirk («Was der Himmel erlaubt») übernahm der Filmemacher die Verachtung der Kinder für das Glück ihrer Mutter. Doch wie er dann im zweiten Teil die Geschichte fort erzählt, wenn das Paar nicht mehr an der Umwelt, sondern an einander zu zerbrechen droht: Das ist ohne Vorbild.
Manchmal fragt man sich, warum das deutsche Kino keinen Reality-Satiriker wie Österreichs Ulrich Seidl hervorbrachte, keinen ironischen Poeten wie Finnlands Aki Kaurismäki oder keinen sozialen Realisten wie Englands Ken Loach. Aber was wären sie alle ohne Fassbinder. «Angst essen Seele auf», dieser kleine, formvollendete Film zeigt ihn als genialen Minimalisten. Es war nicht einfach, das strenge, formbewusste Autorenkino wieder für das Gefühl zu öffnen. Das ist sein grösstes Verdienst.
Fassbinder kam 1945 in Bayern zur Welt. Den gebildeten Jungen zog es früh zum Film, er wurde Autodidakt, schrieb Drehbücher, führte Regie und trat auch vor die Kameras. Allein im Jahr 1970, da war er 25-jährig, stellte er sechs Filmprojekte fertig. Der Workaholic hielt dieses Tempo nur durch, indem er zu Aufputschmitteln griff. Am 10. Juni 1982, da war er längst ein Star des europäischen Autorenkinos, zahlte er seinen ausschweifenden Lebens- und Arbeitsstil mit dem Leben: Er starb an einer Mischvergiftung durch Kokain, Alkohol und Schlaftabletten.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.06.12