Lars Ruppel weiss, wie man als Pfleger Demenzkranke mit Gedichten erreicht

Der Slampoet Lars Ruppel gibt Workshops für Pflegepersonal, wie man Gedichte vorträgt. In der Basler Tagesstätte Atrium finden die Betreuer damit einen neuen Kontakt zu demenzkranken Menschen.

Lars Ruppel performt Schiller und Eichendorff im Atrium. Auch wenn sie vieles vergessen, «Die Glocke» kennen die dementen Damen noch. (Bild: Livio Marc Stoeckli)

Der Slampoet Lars Ruppel gibt Workshops für Pflegepersonal, wie man Gedichte vorträgt. In der Basler Tagesstätte Atrium finden die Betreuer damit einen neuen Kontakt zu demenzkranken Menschen.

Die beste Chance, als junger Mann angesprochen zu werden, hat man in einem Kreis von dementen Damen. «Sie haben aber tolle Haare», sagt eine ältere Frau zum Journalisten, der zu Besuch in der Tagesstätte im Atrium der Stiftung Basler Wirrgarten ist. «Und ihre Schuhe, wirklich toll.» Wie alt sie denn sei? «Ich? 24», sagt sie lakonisch.

Wie führt man dieses Gespräch nun fort? Alles geht. Viele der gewohnten Regeln gelten hier anscheinend nicht. Je direkter man etwas sagt, desto direkter wird etwas zurückkommen. Wenn man die Frau hingegen fragt, wie ihr die Veranstaltung gefallen hat, in der wir eine halbe Stunde zuvor gemeinsam gesessen haben, wird man wahrscheinlich nicht weit kommen. Deswegen sitzen wir erstmal eine Weile nebeneinander und trinken Früchtetee, während sie den Erdbeerkuchen, den ihr ein Betreuer anbietet, mit der Hand vom Teller greifen will. Warum auch nicht.

Eine unkonventionelle Art, Geld zu verdienen

Sie wirkt noch etwas aufgekratzt, deswegen vielleicht auch der unverhohlene Flirt. Dabei verwechselt sie den Journalisten mit Lars Ruppel, der heute im Atrium zu Gast ist. Ruppel ist Slampoet und daher Spezialist für Poesie und Humor, Tief- und Unsinn, jede Art von Bühnenpräsenz und für unkonventionelle Arten, sein Geld zu verdienen. (Auch in der TagesWoche war er schon zu lesen)

Seit sechs Jahren bietet Ruppel Workshops an, wie man Gedichte vorträgt. Oder eben nicht vorträgt, sondern spielt, singt, performt, adressiert, je nachdem, was es braucht, um das Gegenüber zu erreichen. Er unterrichtet Betreuer in Pflegeheimen, Wärter in Frauengefängnissen, Top-Manager, Grundschulkinder.

Im Atrium sind es Menschen, die an Demenz leiden und ihren Alltag nicht allein bewältigen können. Manche haben die Bewegung vergessen, mit der man sich die Hände wäscht. Andere haben Schwierigkeiten, zusammenhängende Sätze zu formulieren, schämen sich dafür und lassen nur vorsichtig Kontakt mit anderen zu.

Beim Stuhlkreis in der Sofaecke merkt man davon nicht viel. Die sieben Damen, die heute anwesend sind, schauen sehr rüstig aus. Umso seltsamer wirkt es, als Lars Ruppel die Performance beginnt. Er gibt jeder Dame die Hand und begrüsst sie ganz besonders. Dann gibt er ein Intro, warum Poesie so schön ist und, sinngemäss, dass sie sich gemeinsam am Leben freuen wollen.

Hochkultur im Kleinkindton

Ist das das richtige Niveau? Für Aussenstehende, die den Umgang mit Dementen nicht kennen, hört es sich an, als würden Eltern zu ihren kleinen Kindern sprechen. Ruppels Stimme nimmt die Melodie und die Übersorgfalt an, mit der man zu Vierjährigen spricht. «Es ist tatsächlich schwierig, für eine Gruppe den richtigen Tonfall zu finden, um alle abzuholen», sagt Ruppel dazu. «Ich muss langsam sprechen, weil viele demente Menschen Probleme mit dem Sprachverständnis haben.»

Zugleich ist das Programm, das er zusammen mit dem gerade eben geschulten Personal während einer Dreiviertelstunde spielt, ein Hochkulturbündel. Fontanes «Herr von Ribbeck» kommt vor, die «Mondnacht» von Eichendorff, Schillers «Glocke» und die Ode «An die Freude» (gesungen mit Synchronklatschen), auch ein Wilhelm Busch ist dabei.

Mit seinen Vortragstechniken gibt Ruppel den Betreuern ein neues Mittel, Kontakt zu den Demenzkranken aufzubauen. Ziel ist es, dass die Betreuer die Gedichte auswählen («vergesst Bücher, googelt») und ihre eigene Art des Vortrags finden. Für diesmal hat Ruppel ihnen für jedes mitgebrachte Gedicht eine andere Vortragsweise vorgeschlagen. Erich Frieds «Was es ist» hat er abgewandelt und lässt den titelgebenden Vers «Es ist was es ist / sagt die Liebe» nach jeder Zeile von der ganzen Runde sprechen – «das aktiviert die Erinnerung», sagt er, «und gibt den Leuten ein Erlebnis von Erfolg, wenn sie den Text mitsprechen können».

Bei der «Mondnacht» fassen sich alle an den Händen, wiegen sich im Takt («die Ähren wogten sacht») und recken Arme und Brust, als es heisst: «Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus / Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach Haus.» «Der Text wird meist mit dem Tod assoziert und als Vers für Todesanzeigen verwendet», sagt Ruppel. Er sieht es anders. Für ihn ist das Heimkommen im Gedicht wichtig, weil es bei vielen älteren Menschen das Bewusstsein berührt, dass sie Zeiten und Orte hinter sich gelassen und verloren haben. Eichendorffs Seele, die Flügel spannt, benennt die Bewegung, die sie sich oft wünschen.

Dank für jeden Vers

Der Praktikant des Atriums spricht ein Gedicht in der sogenannten Massagetechnik, wie es Ruppel nennt. Auch er geht reihum und berührt jede der Damen so, wie es der Vers nahelegt. Tierchen krabbeln an einem Blütenstengel empor, etwas wird gestreichelt, etwas zwickt. Eine Dame bedankt sich jedesmal, wenn er zu ihr kommt und ihr einen Vers sagt.

Dann spricht Ruppel die «Glocke», wieder reihum. Die meisten Damen bewegen die Lippen dazu. Eine von ihnen spricht zwei Verse laut mit. Wahrscheinlich hat sie den Text vor 60 Jahren auswendig gelernt und erinnert sich nun daran, während sie wohl zugleich vergessen hat, was sie getan hat, bevor sie sich in diesen Stuhlkreis setzte.

Bei einem anderen Gedicht trifft es sich ungünstig und eine Betreuerin spricht zu einer Dame, die aristokratisch in einem Fauteuil sitzt, den Vers: «… neben ihr ’ne alte Schachtel». «Ah», ruft die Dame aus, «das bin ich!» Der nächste Vers aus dem Gedicht «Dunkel war’s», das lauter Gegensätze aneinanderreiht, kommt da schon zu spät: «Zählte kaum erst sechzehn Jahr». «Das bin ich», ruft es weiter aus dem Fauteuil.

«Das ist mal was, heute»

Der Betreuerin ist das im Gespräch danach etwas unrecht, während ihre Kollegen einen Erfolg feiern. Dass eine demenzkranke Person Ironie kennt und selber äussern kann, ist selten. Und tatsächlich ist die Dame aus dem Fauteuil in ihrem Humor ganz ungezwungen. Beim Kaffee nach der Gedichtrunde bricht sie unvermittelt in lautes Grunzen aus, während es der Frau, die mit dem Journalisten flirtet, gar nicht recht ist: «Also bitte, das geht doch nicht.»

Das Highlight während des Stuhlkreises ist von aussen gar nicht zu bemerken. Eine Frau scheint besonders fit und hat einen Gesichtsausdruck, als würde sie gerade von einem Theaterabend heimkommen. Die Hand der Gedichtsprecher will sie nicht nehmen, wendet sich zwischendurch an eine Betreuerin und flüstert ihr etwas zu.

Beim Gespräch danach stellen sich die Worte heraus, die sie der Betreuerin zugeraunt hat: «Das ist mal was Tolles, heute.» Für gewöhnlich spricht sie kaum, weil sie Schwierigkeiten mit dem Formulieren hat. Sie spürt, dass ihr etwas abhanden gekommen ist, zieht sich zurück und kommt nur begleitet in Gesellschaft. Zudem sind ihre motorischen Schwierigkeiten der Grund, weshalb sie den Gedichtsprechern die Hand nicht reicht. Und dann, wieder bei Eichendorff, reisst sie bei der Stelle mit den Flügeln einen Arm hoch. Darüber sind die Betreuer fast so glücklich, wie die dementen Damen selbst, die am Ende des Stuhlkreises ganz selige Gesichter haben.

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