Deutschland, Frankreich und die Schweiz haben eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Die Ausstellung «Liebe deinen Nachbarn» in Freiburg sucht die individuellen Schicksale hinter den abstrakten Daten.
«Liebe Mama», schreibt die kleine Ursula 1948 nach Hause, «ich bin gut angekommen». Ursula schreibt krakelig, das Blatt ist unliniert, von einem billigen Grau, und Ursula nutzt den unbegrenzten Platz weidlich für ihre unterschiedlich grossen Buchstaben. Keine sechs Wochen später der nächste Brief: «Liebes Mammi», redet sie da schon ganz eingeschweizert ihre Mutter daheim in Stuttgart an und schreibt, wie toll und geborgen sie sich in Glarus fühlt. Ursulas Schrift ist kaum wiederzuerkennen: Das Schreibpapier ist kariert, und Ursula hält sich mit enger gesetzten, exakten Buchstaben peinlich genau an die Kästchen.
Ursula ist eines von 118’000 Kindern – 50’000 aus Deutschland und 68’000 aus Frankreich –, die Schweizer Familien zwischen 1940 und 1956 für mehrere Monate bei sich aufgenommen haben. Die Kinder, viele vom Krieg traumatisiert, unterernährt und verängstigt, erfuhren hier zum ersten Mal seit Langem Sicherheit und Geborgenheit. «Kriegskinder im Schlaraffenland», schreiben die Macher der Ausstellung «Liebe deinen Nachbarn» im Freiburger Augustinermuseum. Mit den Kindern beginnt die Schau, in der einzelne Schicksale die Beziehungen der Menschen im Dreiländereck in den Wirren der Geschichte illustrieren.
Die bessere Ernährung
Ist die klarere Schrift von Ursula der Effekt der besseren Ernährung, wie es in der Ausstellung heisst? Oder ist sie auch ein Ergebnis der Erziehung, die die Schweizer Familien ihren Gastkindern angedeihen liessen? «Ja, liebes kleines Urseli», schreibt Ursulas Gastmutter zu Weihnachten 1948, «es hat noch so arg viel kleinere und grössere Kinder in Deutschland und Österreich, die alle einmal gerne zu uns kämen.» Vermutlich hatte Ursula sich nach einem erneuten Besuch gesehnt.
Viele der damals entstandenen Kontakte hatten auch weit über den Aufenthalt der Kinder hinaus Bestand. Zum Geburtstag und zu Weihnachten gab es Geschenke aus der Schweiz, Schokolade, ein Schweizer Messer, einen Teddy. Man schrieb sich und besuchte sich noch, als die Kinder längst erwachsen waren. Und Rösle Vogel aus Emmendingen bei Freiburg, die vier Monate bei der Familie Wanner in Schaffhausen verbracht hatte, pflegte zuletzt sogar ihren über 90-jährigen Gastvater.
In übersichtlichen Vitrinen veranschaulichen Briefe, Tagebücher, Collagen, Zeichnungen, Handarbeiten die einzelnen Geschichten. Berührend, wie zum Beispiel schrumpelige, gehäkelte Topflappen plötzlich Details zu einem Schicksal erzählen, von dem die meisten Besucher bislang nur den grossen Rahmen kannten. Kurze Texte erklären die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte, die, zumindest was die Geschichte Deutschlands und Frankreichs betrifft, eine Abfolge von Kriegen ist.
Die Ausstellung erzählt von jungen Badnern, die auf Befehl ihres Landesherren für Napoleon kämpfen mussten und im Russlandfeldzug ihr Leben verloren. Sie erzählt von Hass und erbitterter Feindschaft im Ersten Weltkrieg und von verbotener Liebe mit dem «Erbfeind» im Zweiten Weltkrieg, die so aussichtslos war, dass das Paar den Ausweg nur im gemeinsamen Suizid sah.
Zwei grosse Räume füllt die Ausstellung, der erste ist sehr speziell gestaltet: Hohe Bretterriegel liegen quer im Saal, im Zickzack führt der Weg hindurch. Mit dem Effekt, dass der Besucher von der Vitrine zwangsläufig Vorder- und Rückseite sieht und so zwei Seiten derselben Medaille gezeigt bekommt. «Retter/Sauveur», «Freund/Ami», «Feind/Ennemi», «Gastgeber/Hôte» sind die Holzgebilde überschrieben und zeigen damit auf den ersten Blick die thematische Gliederung.
Komplizierte Verhältnisse
Der zweite Saal ist schneller durchschritten: Auf einem langen Tisch sind weitere Beispiele des häufig komplizierten nachbarschaftlichen Verhältnisses im Dreiländereck aneinandergereiht. Eine Guillotine steht mittendrin, eine Armbrust baumelt von der Decke, was möglicherweise verdeutlichen soll, dass die Gewalt nicht nur von deutscher Seite ausging.
Am Ende dann ein grosser Bildschirm, auf dem in endloser Schleife eine Interviewsequenz läuft: Ein selbsternannter Auslandskorrespondent mit starkem italienischem Akzent stellt Passanten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz die Grundfrage der Ausstellung: «Lieben Sie Ihren Nachbarn?» So manchen bringt die Frage in Verlegenheit: «Ich liebe alle Menschen», antworten einige, «ich liebe keinen», andere. Und wieder andere antworten ganz pragmatisch: «Die Franzosen lieben die Schweizer, weil sie dort mehr Geld verdienen, und die Deutschen, weil sie dort billiger einkaufen können. Und die Deutschen lieben die Franzosen, weil sie hier wandern gehen.» Der letzte Krieg, das hört man da, ist lange her, von Feindschaft keine Spur.
Die Ausstellung «Liebe deinen Nachbarn» im Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau läuft noch bis zum 30. September, Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12