Wer hört heutzutage noch Radio? Tendenz wegsterbend. Dabei hat das Medium grossartiges Potenzial. Ein Plädoyer für eine Renaissance.
Das Radio ist reichweitenstärkstes Medium der Schweiz: Über 80 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner sollen in der ersten Hälfte des Jahres 2015 täglich Radio gehört haben, und dies im Durchschnitt rund zwei Stunden lang.
Das muss eine dreiste Lüge sein.
Wer sind diese 80 Prozent? Wer hört sich zwei Stunden pro Tag beliebiges Geplaudere und Musik an? Es gibt doch Spotify und Podcast-Dienste, und überhaupt ist man sich heutzutage gewohnt, aus all dem, was täglich an Unterhaltung auf uns zurast, auszuwählen. Zwischen uns und der Information gibt es einen Knopf, den wir drücken können oder nicht. Wir haben die Wahl, wir brauchen nichts dem Zufall zu überlassen, weder bei Filmen, noch bei Serien (danke Netflix), News, Musik oder Rezepten.
Selbstbestimmte Kuratoren unseres Wissen
Wenn wir Philip Maloney hören wollen, brauchen wir nicht zu warten, bis wieder Sonntag ist. Wenn wir Lust auf ein Rüeblicake haben, gibt es nicht mehr nur die Betty-Bossi-Variante, sondern 623 Rezepte auf chefkoch.de.
Wir sind selbstbestimmte Kuratoren unseres Wissens.
Wie kann es dann sein, dass 80 Prozent der Leute noch immer viel Radio hören? Weil sie überall beschallt werden: Beim Einkaufen, bei der Arbeit, in der Beiz, im Hallenbad, bei der Dentalhygienikerin, neuerdings sogar am Bahnhof. Und bei den Grosseltern: Radio ist das Internet der über 70-Jährigen. Da kommen schnell mal zwei Stunden auf 80 Prozent der Bevölkerung. Was aber, wenn die letzte treue Bastion der Generation Radio das Zeitliche segnet? Dann muss sich SRF was überlegen.
Nur wie?
Indem es sich erstmal vergegenwärtigt, wie die nächste Generation von potenziellen Radio-Hörern aussieht. Wenn Leute zwischen 16 und 35 Jahren Radio hören, dann gehören sie zu einer der folgenden drei Kategorien:
1. Der SRF-3-Slacker
Der Bummler unter den Hörern läuft morgens als Erstes zum Radiogerät, schräubelt schlaftrunken am Sendeknopf und lässt sich so lange berieseln, bis sein Morgenritual zu Ende ist. Dasselbe wird am Abend wiederholt.
Meist mit SRF 3, da läuft die eingängigste Musik. Er ist anspruchslos und leicht zufriedenzustellen, ab und zu regt er sich auf, dass zu viel geredet wird, was mit dem nächsten Adele-Lied aber bereits wieder vergessen ist. Radio ist für ihn Nebengeräusch und Gewohnheit, meist hat er sein Hörverhalten von den Eltern geerbt.
2. Der Echo-der-Zeit-Streber
Dem Intellekto dient das Radio vor allem zur auditiven Informationsbeschaffung. Er will Hintergründe, Meinungen, Debatten.
Er kann mühelos dem 20-minütigen Monolog eines Wirtschaftsprofessors folgen. Er ist aufmerksam und schlau und schnell. Er ist das, wovon vor allem bei Radio SRF 2 Kultur viele Formate ausgehen, der perfekte Konsument für dichte, anspruchsvolle Sendungen. Was dabei gern vergessen geht: Er ist äusserst selten.
3. Der Kontext-Hipster
Die kleinste, aber auch am schnellsten wachsende Kategorie von Hörern: Auch der Kontext-Hipster will Informationen, am liebsten jedoch in eine Geschichte verpackt. Spätestens nach fünf Minuten hört er dem labernden Wirtschaftsprofessor nicht mehr zu.
Er will Inhalt, der mit seiner Lebenswelt zu tun hat und entsprechend erzählt wird. Und er hört Podcasts, morgens auf dem Weg zur Arbeit, abends beim Kochen. Nur sind es selten Schweizer Produktionen, sondern amerikanische Formate wie «This American Life» oder «Radiolab». Die Sendung «Kontext» von SRF 2 Kultur wird auch eingeschaltet, meist aber nur, wenn grad ein spannendes Thema ohne Wirtschaftsprofessor ansteht.
Diese Kategorien gilt es zu überzeugen. Und ihnen bestenfalls ein so gutes Programm zu bieten, dass sie es in ihren Kreisen weiterverbreiten. Dabei muss vor allem bei Kategorie 2 und 3 beachtet werden: Es handelt sich um Leute der Generation Y, also faul, was die Medienbeschaffung angeht. Und unerbittlich in ihrer Auswahl. Steht es nicht im Internet, existiert es nicht. Alle Sendungen müssen online abrufbar sein, jederzeit, mit wenigen Klicks, personalisiert und mobile-freundlich. So weit die Formalitäten, die das SRF erfüllt.
Mit Formalitäten allein ist das Problem aber lange nicht gelöst. Die Hauptherausforderung besteht darin, Radio zu machen, das diese Menschen wirklich interessiert.
Dazu muss sich das Radio seiner Situation bewusst werden: Radio braucht es streng genommen nicht mehr. Nachrichten, Musik und Unterhaltung kann man sich woanders holen. Was bleibt dem Hörfunk also noch? Die Antwort ist simpel: Seine grösste Stärke – das Erzählen.
Wie erzählt man so, dass es auch ankommt? Ein paar Ansätze:
1. Weg mit den alten Experten!
Sie sind Radiomacher, 50 Jahre alt und interessieren sich für Heideggers «Schwarze Hefte»? Das ist wunderbar, nur: Wie bringen Sie diese Faszination an den Hörer? Wieso soll dieses Thema interessieren? Die einfachste und geläufigste Vorgehensweise ist die Einladung eines Wissenschaftlers, der über 50 und ein Mann ist. Ein promovierter Mann, der gerne sein Wissen teilt, 20 Minuten lang, im Gespräch mit einem Moderator. Grausam fade. Wieso nicht mit dem Experten irgendwo hin und eine Reportage machen? Oder ihn durch ein junges Heidegger-Groupie ersetzen? Oder die Geschichte anders erzählen, so, dass der Experte zum Detektiv auf der Suche nach Heideggers Nazi-Sympathien wird? Womit wir beim nächsten Punkt wären:
2. Info ist gut, Geschichten sind besser
Hinter jedem Thema steckt eine Anzahl von Geschichten. Wählen Sie aus und erzählen Sie. Und überlassen Sie dabei die trockenen Infos den vollen Stunden, dafür sind diese da.
3. Keine Angst vor Sounds
Das Tollste am Radio ist das, was ihm eigentlich fehlt: Bildstoff. Um dieses Defizit auszugleichen, müssen Klangbilder ran. Mit Stimmen allein ist kein Hörerlebnis geschaffen. Wozu also hat man eine Hörspiel-Abteilung? Fähige Techniker? Ein Monster-Archiv an Klang? Zum Anklopfen und Mitbenutzen. Dazu muss nicht immer die silberne Servierplatte hervorgeholt werden, dem Hörer können durchaus auch schräge Klänge zugemutet werden. «You want to seduce people, but you also want to disturb them», sagt «Radiolab»-Macher Jad Abumrad im «New York Times Magazine». Das Spektrum muss ausgeschöpft werden und dazu braucht es:
4. Mut!
Der Ablauf eines Beitrags ist meist simpel: Journalist pitcht Story, Journalist sucht Gesprächspartner für Story, Journalist unterhält sich mit Gesprächspartner über Story, Journalist hat Story. Die Schritte ändern sich, die Story nicht. Wieso eigentlich? Was passiert bei Uneinigkeiten, Störfaktoren und unerwarteten Ereignissen? Bei Kontrollverlust? Und wieso krieg ich das nicht zu hören? Es ist ein Trugschluss, dass Glattgebügelt Holprig übertrumpft. Holpersteine halten wach.
5. Kulissen hoch
Wach hält auch die Nähe zum Reporter: Wenn es die Geschichte erlaubt, wieso nicht mal die eigenen Arbeitsschritte transparent machen? Telefonate aufzeichnen? Recherche aufzeigen? Offene Fragen thematisieren? Die Radiojournalistin Sarah Koenig hat im Podcast «Serial» die Nähe zu einem potenziellen Mörder gesucht und ihre eigenen Unsicherheiten immer wieder zum Thema gemacht. 30 Millionen Hörer hingen ihr an den Lippen.
6. Auch mal: Ruhe geben
Eine wichtige Regel beim Radio lautet: Je knapper, desto besser. Radiojournalisten sind Meister im Herunterbrechen und Entschnörkeln. Das kann erfrischend und angenehm sein oder aber ins Gegenteil umschlagen: Wer herunterbricht, der hat mehr Platz für mehr Inhalte. Und macht Sendungen, die so dicht sind, dass man sie sich mehrmals anhören muss, um alles mitzukriegen. Man verliert den Hörer nicht durch zu lange O-Töne (auch so eine Regel: Keine O-Töne, die länger als 30 Sekunden dauern), sondern durch die Konsequenzen der Knappheits-Schiene: zu viel Stuff auf einmal. Dabei kann man doch einfach mal jemanden reden lassen, auch wenn er nicht alles auf den Punkt bringt. Oder Musik/Klang/Geräusch-Intervalle einbauen, die Zeit zum Verdauen geben.
Schon klar, diese Vorschläge retten noch lange kein vermodertes Radio. Aber sie können dazu beitragen, dass jene 80 Prozent von Menschen ausgemacht werden, die mit voller Absicht, Bewunderung und Freude jeden Tag das Radio einschalten. Weil es was mit ihnen zu tun hat und weil es Geschichten liefert, die kein anderes Medium so zu erzählen vermag. Und je zu erzählen vermögen wird.
Radio mag überholt sein, tot ist es deswegen noch lange nicht.