Menschenjagd

In «Jagten» löst eine vermeintlich harmlose Bemerkung eine verhängnisvolle Hetzjagd aus.

Lucas, unschuldig gehetzt und gejagt. (Bild: Frenetic Films)

In «Jagten» löst eine vermeintlich harmlose Bemerkung eine verhängnisvolle Hetzjagd aus.

Mitten in der Nachkriegsprüderie schrieb Arthur Miller seine «Hexenjagd». Er prangerte die Hysterie an, mit der Andersdenkende verfolgt wurden. In ­«Jagten» denkt der dänische Regisseur Vinterberg über die Hysterie nach, mit der Gleichdenkende verfolgen. Beide stellen die sexuelle Moral infrage.

Lucas hat seine Stelle verloren und steckt mitten im Sorgerechtsstreit. Zurückgekehrt an seinen Geburtsort, findet er eine Stelle als Kindergärtner. Mads Mikkelsen spielt diesen Lucas, wortkarg, sensibel, traurig. Lucas ist bei allen beliebt. Als er aber der fünfjährigen Klara einen Kuss auf den Mund verweigert, weil «das nur zwischen Mama und Papa sein soll», reagiert die Kleine eifersüchtig: Der Kindergartenleiterin sagt sie, sie habe Lucas’ Penis stehen sehen, und löst eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus.

Die Kreise um den vermeintlichen ­Se­xualtäter werden rasch enger, und bald wird die Menschenjagd eröffnet. Seine ­Fenster werden eingeworfen. Sein Hund ­getötet. Sein Sohn belästigt. Das Betreten des Dorfladens wird ihm ebenso untersagt wie das des Kindergartens.

Missbräuche

In «Festen» hat Vinterberg 1998 einen Missbrauch aus der Sicht des Opfers untersucht, samt den Verheerungen, die das Aufdecken nach 30 Jahren mit sich bringt. ­In «Jagten» präsentiert er nun die Verheerung der Täterin, die das Opferdasein nur für 30 Sekunden missbraucht. Denn Klara, die auch das Opfer hätte sein können, ist eine unschuldige Täterin. Sie ahnt nicht, was sie mit ihrer Bemerkung bei den Erwachsenen anstösst.

Die in Gang gesetzte Maschinerie ist gnadenlos. Niemand entkommt den Fesseln der Voreingenommenheit. Die kleine Klara ist bald die Einzige im Dorf, die weiss, etwas «Blödes gesagt» zu haben, und dies auch mehrfach sagt – zu spät. Dies ist das Sublime in Vinterbergs Missbrauchs-Analysen: Dem Kind hört nie jemand unvorein­genommen zu. Als es zum Eklat kommt, ist es für Versöhnung zu spät: Was bleibt, ist die Eröffnung der nächsten Jagdsaison.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.02.13

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