«Moby-Dick»: Wal, da bläst er!

Für den Mythos «Moby-Dick» sind kein Staunen und keine Leinwand zu gross: Herman Melvilles Jahrhundertroman, der neu verfilmt wurde, sprengt jedes Format.

Für den Mythos «Moby-Dick» sind kein Staunen und keine Leinwand zu gross: Herman Melvilles Jahrhundertroman, der neu verfilmt wurde, sprengt jedes Format.

Nennt mich anmassend: In diesen dürren Zeilen ein Stück Weltliteratur von der Postur eines «Moby-Dick» zu würdigen, ist, als ob man eine ganze Bibliothek in eine Flaschenpost quetschen wollte. Oder einen Wal in eine Sardinenbüchse. Einerseits. Andererseits war der New Yorker Autor Herman Melville (1819–1891) dem weissen Wal auch nach 600 Seiten nicht gewachsen, sein eigener Erzähler, Ishmael, tut das 1851 veröffentlichte Buch als Entwurf eines Entwurfs ab.

Dabei lässt sich der Plot rasch zusammenfassen (Spoiler in Sicht!): Wal beisst Mann, Mann jagt Wal, Wal versenkt Schiff. Zuerst passiert lange nichts, dann ist alles ganz plötzlich vorbei. Als Literaturstudent schaut man sich die Verfilmung von John Huston an oder überblättert grosszügig drei Viertel des Buches, um herauszufinden, ob der Wal stirbt (nein) und Ishmael überlebt (klar, sonst könnte er nicht vom drastischen Ausgang der Geschichte berichten).

Monströse Vielfalt

Doch was wirklich zählt bei dieser Fahrt ins Meerblaue, sind eben nicht die Action oder die wahren Begebenheiten, auf die Hollywood den dicken Brocken mit «In the Heart of the Sea» einzukochen versucht, sondern der Beifang, wie es im Latein der Hochseefischerei heisst: die endlosen Abschweifungen, in denen Ishmael sich verliert, die enzyklopädischen Exzesse, autobiografischen Details (Melville hatte selbst auf einem Walfänger angeheuert), die eingestreuten Theaterdialoge und religiösen Bekenntnisse, an denen sich der metaphysische Zweifel wie ein Tiefseeungeheuer festsaugt.

Das Buch ist in seiner monströsen Vielfalt so schwer zu fassen wie Moby-Dick selbst, und sein Erzähler nicht minder: Präsentiert er sich zunächst noch als eigenständiger Abenteurer, erliegt er bald dem gefährlichen Magnetismus von Captain Ahab, der lieber seine gesamte Mannschaft in ein nasses Grab zwingt, als sich dem Schicksal zu beugen. Ishmaels Faszination für den rachsüchtigen Kapitän weist ihn trotz des archaischen Business mit dem Blutvergiessen als moderne Figur aus, die es in ihrer Unsicherheit zu einer autoritären Führerfigur zieht.  

Diese Qualität blieb vielen Leserinnen und Lesern zunächst verborgen, «Moby-Dick» war ein Flop, bis das Buch zu Beginn des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Mittlerweile gilt das Buch als «Great American Novel» und zeitloses Kunstwerk dazu, dafür müssen die Seefahrer auf Jagd nach dem begehrten Tranöl nicht einmal als Wegbereiter unserer fossilen Gesellschaft zurechtinterpretiert werden.

Keine Qualität ohne ihr Gegenteil

«Moby-Dick» macht die Aktualität für den eigenen Hausgebrauch leicht, etwa wenn Ishmael die Vorzüge eines kuscheligen Bettes lobt, während der Winterwind vor den Fenstern heult. Das Geheimnis wohliger Wärme, erklärt der Erzähler, liegt darin, die Nasenspitze unter der Decke hervorzustrecken und so der Kälte auszusetzen – weil keine Qualität ohne ihr Gegenteil als solche zu erkennen und zu schätzen ist.

Eben deshalb braucht es sie doch, die Zeilenschinder und Twitter-Knechte, durch deren trübes Wörtermeer «Moby-Dick» pflügt, um unserer Häppchenkultur die runzlige Stirn zu bieten: Wal, da bläst er!    

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«In the Heart of the Sea» läuft in den Basler Kinos.

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