Morgengrauen: Nüblings virtuose Verstörung

«Morning», Sebastian Nüblings jüngste Inszenierung jugendlicher Gewalt am Jungen Theater Basel, wirkt im ersten Moment übelkeitserregend authentisch – und wirft gerade deshalb mit Distanz betrachtet einige kritische Fragen auf.

Szenen aus «Morning» (Bild: Uwe Heinrich )

«Morning», Sebastian Nüblings jüngste Inszenierung jugendlicher Gewalt am Jungen Theater Basel, wirkt im ersten Moment übelkeitserregend authentisch – und wirft gerade deshalb mit Distanz betrachtet einige kritische Fragen auf.

Stephanies Leben ist im Moment gerade ziemlich zum Kotzen – um es in der Sprache der 17-Jährigen auszudrücken. Ihre beste Freundin Cat flüchtet aus dem typischen Ennui der kleinstädtischen Mittelschichtsjugend ins Internat, ihre Mutter stirbt zuhause vor den Augen ihrer beiden Kinder langsam an Krebs, und anstelle ihres Freundes Stephen, der sie auf naive Weise vergöttert, wäre sie lieber mit dem coolen Jacob zusammen, der aber nur noch Augen für Schulschönheit Anna hat. Kein Wunder also, dass sich die Hauptperson in Simon Stephens‘ Stück «Morning» (2012) von der Welt allein gelassen fühlt, und – zunehmend verzweifelt, rücksichtslos und egozentrisch – versucht, ihr Schicksal selber zu bestimmen: mit fatalen Folgen.

Ein Stoff, der wie massgeschneidert scheint für das Junge Theater Basel, das solche Versuchsanordnungen seit Jahren stets mit sehenswerten, wenn nicht gar brillanten Resultaten durchexerziert. Und wer vergangene Arbeiten wie «Die Schaukel» oder unlängst «Sand» kennt, weiss auch um Vorzeige-Regisseur Sebastian Nüblings vielgelobte Fähigkeit, das Letzte aus seinen jugendlichen Darstellern herauszukitzeln – mit explosiven, oft auch sehr beklemmenden Resultaten.

Unvermittelt wie ein Faustschlag

Trotzdem trifft der Gewaltakt im Mittelpunkt von «Morning» den Zuschauer überraschend wie ein plötzlicher Faustschlag in den Magen und hinterlässt nicht bloss Entsetzen, sondern vielmehr Fassungslosigkeit: Ein stummes Grauen erschauert das merklich aufgewühlte Publikum ob dieser ungeheuerlichen Tat, welche die jugendlichen Darsteller dagegen zu verdrängen scheinen, vermeintlich schlicht achselzuckend abhaken und weiterleben.

Dieser grundlegende Gegensatz macht die aktuelle Aufführung des Jungen Theaters, die am Samstag ihre ausverkaufte Premiere feierte, insgesamt schwer verdaulich – gerade weil sich die gesamte Crew in all ihren Einzelleistungen unbestritten in Hochform präsentiert: von der aufs Wesentliche reduzierten Ausstattung (Ursula Leuenberger) über die eindringlichen Visuals und Sounds (Philip Whitfield / Tobias Koch) bis hin zur popkulturaffinen, aber alles andere als künstlich wirkenden choreographischen Umrahmung mit Tanz, Gesang und Rap.

Und zuvorderst, an allererster Stelle, gebührt der eindringlichen schauspielerischen Leistung des jungen Ensembles um Stephanie (beängstigend authentisch: Tabea Buser) grosses Lob: Nicht zuletzt, weil sie durch die Übertragung der Vorlage ins Schweizerdeutsche eine ausserordentliche Nähe zu ihren Charakteren schaffen. Eine Nähe, die wiederum in starkem Kontrast zu ihren oft brutalen Handlungen steht.

Ausweitung der pubertären Kampfzone

Die (nach «Reiher» und «Punk Rock») dritte Zusammenarbeit von Nübling und Stephens zeigt dagegen eigentlich eine von erwachsenen Vorbildern weitgehend entvölkerte, desolat erscheinende, junge Welt, welche den Protagonisten wenig Anlass zu Vertrauen und Hoffnung gibt. Als eine Art distanzlos-distanzierte Fallstudie verfolgt das Stück dabei die Geschehnisse, ohne eindeutige Erklärungen und Schlüsse abzuliefern. Erinnert die Inszenierung in ihrem ständigen Verweis auf einen alltäglichen, archaischen Überlebenskampf unter der dünnen, bürgerlichen Oberfläche auch mal an die «Blechtrommel» oder an «Herr der Fliegen», so verzichtet «Morning» gleichzeitig aber auf jeglichen konkreten Kontext der Handlung: Die Ausweitung der pubertären Kampfzone könnte sich somit scheinbar irgendwo in der gegenwärtigen Gesellschaft zutragen; und zwar überall da, wo die vermeintliche Familienidylle der Reihenhaussiedlungen rissig wird und tiefe Abgründe offenbart.

Zelebrieren und Zementieren solche Inszenierungen nicht selbst gerade das Klischee einer verlorenen Generation?

Gerade dieses im Jungen Theater mittlerweile etablierte und vielfach verwendete Narrativ, das die Gewalt mitten im Alltag einer abstrakten Allgemeinheit verortet, das die fragile Balance zwischen Spass und (Tod-)Ernst betont, die fliessenden Übergange von überbordenden pubertären Neckereien zum barbarischen Tötungsdelikt unterstreicht, wirft mit kritischer Distanz betrachtet allerdings zunehmend einige Fragen auf.

Die Blaupause als Zerrbild

Denn: Worin liegt eigentlich die vermeintlich dringlich notwendige, seit den 90er Jahren andauernde Fokussierung jungen Theaterschaffens auf sexuelle, psychische und physische Gewaltexzesse begründet? Wieso gelten Inszenierungen, die Nachwuchsschauspieler dabei zeigen, wie sie einander ungerührt und ohne äussere Not verletzen, beinahe per se als kulturell relevant, mutig und gesellschaftskritisch? Wieviel inszenatorisches Kalkül steckt in diesen stets aufs Neue vollzogenen Tabubrüchen, die den tragischen Einzelfall zur Blaupause der Jugend hochstilisieren, und damit vorgaukeln, in jedem unglücklichen Pubertierenden stecke ein potentieller Amokläufer, Sextäter oder soziopathischer Killer, eine tickende Zeitbombe?

Zelebrieren und Zementieren solche Inszenierungen nicht selbst gerade das Klischee einer verlorenen Generation, und präsentieren damit implizit ein gefährliches Zerrbild der «heutigen Jugend»?  Worin liegt der Reiz, worin der Gewinn, unverbrauchte junge Darstellerriegen mitsamt all deren Talent und Energie, Furor und Leidenschaft, Sturm und Drang, als erstes in die Rolle empathieloser Killer zu stecken? Sind der theaterpädagogischen Jugendarbeit keinerlei Grenzen gesetzt, ist es im Dienste der Kunst immer in Ordnung, unerfahrene Schauspielaspiranten als erstes mal alles auf der Bühen auskotzen zu lassen, was sie sich an Tortur, Leid und Qualen vorstellen können? Stehen keine konstruktiveren, lebensbejahenderen inszenatorischen Strategien und Kniffe zur Verfügung, um die Intensität der Jugend adäquat auf die Bühne zu bringen? Und: Ist der Grad der Verstörung des Zuschauers, das beständige Übertreten der Schmerzgrenze, per se eine Messlatte oder gar ein Gütesiegel für die Qualität jungen Theaters?

«Kennt ihr das, wenn ihr jemandem zuhört, und während ihr euch versucht vorzustellen, was er eigentlich gerade sagt, wird euch richtig schlecht?» fragt Stephanie am Anfang des Stücks. Dies gilt genauso für Simon Stephens‘ «Morning» – ob man sich der potentiell aufsteigenden Übelkeit allerdings aussetzen möchte, und wenn ja, welches Fazit man daraus zieht, bleibt am Ende jedem selber überlassen.

  • Junges Theater Basel, Kaserne. Nächste Vorstellungen: 30.01. (ausverkauft), 31.01. (ausverkauft), 01.02. jeweils 20 Uhr. Weitere Aufführungen von März bis Mai, Details siehe Spielplan.

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