93 Jahre alt und grummelig: Sherlock Holmes ist im Alter wenig glücklich. In «Mr. Holmes» macht er sich auf die Suche nach dem Grund dafür.
Romanfiguren haben Glück – sie werden nie alt. Sie kommen schlimmstenfalls aus der Mode. Will man eine Romanfigur altern lassen, so muss man dies im Reich der Fantasie tun. Mitch Cullin hat das für den bekanntesten aller Detektive getan: Sherlock Holmes. In «A Slight Trick of the Mind» kämpft der einst so vife Mann gegen die ersten Anzeichen von Alzheimer. Das Buch wurde nun verfilmt – zu einem berührenden Porträt einer Figur, die uns so nahe scheint und doch so fern.
Zuallererst zeigt «Mr. Holmes» eine Version von Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv, die wir noch nie gesehen haben. Obwohl es unzählige Verfilmungen gibt, seit die Bilder laufen gelernt haben. Doyle selbst gefiel die Verkörperung von Holmes durch Eille Norwood am besten – doch die meisten Filme bekam der Autor gar nicht mehr zu Gesicht. Was er von Robert Downey Jr. halten würde, der in Guy Ritchies jüngsten Verfilmungen den Sherlock mit brachialer Gewalt verkörpert, können wir nur vermuten. Wahrscheinlich hätte ihm Benedict Cumberbatchs Interpretation da schon eher behagt.
Nun ist also Ian McKellen an der Reihe, jener Schauspieler, den wir fast nur mit grauem Bart oder zumindest angegrauten Schläfen zu kennen scheinen. 76 Jahre ist er selbst bereits alt, doch sein «Mr. Holmes» ist noch um einiges älter: Mit 93 Jahren sitzt er im Jahr 1947 auf seinem Landsitz und züchtet Bienen. Nur weiss er nicht mehr warum – er zollt dem Alter seinen Tribut und hat die Gründe für seinen Rückzug aus dem Detektivleben vergessen. Ein Fall, den es zu lösen gilt.
Launisch ist das erste Wort, das einem einfällt, wenn man Ian McKellens Sherlock Holmes sieht. Er schnauzt seinen Arzt an (grunzt, müsste man vielleicht eher sagen), und auch seine Haushälterin (verkörpert von Laura Linney) kriegt einiges ab. Ist dieser Mann tatsächlich der berühmte Detektiv, den die Frau bei seiner Ankunft am Bahnhof in ihm zu erkennen glaubt?
Nun ja, zumindest teilweise ist er es. Denn: «Sollte ich je ein Buch über mich schreiben, würde ich zuerst aufräumen mit all den Klischees, die Watson in meine Geschichten geschrieben hat», sagt dieser Mr. Holmes mit grimmigem Gesicht. Die berühmte Pfeife? Er mag lieber Zigarren. Der Hut? Nie getragen – wieso auch? Nicht einmal die Adresse Baker Street 221b stimmt – eigentlich wohnte er gegenüber, die falsche Angabe sollte amerikanische Touristen verwirren.
Aufräumen mit den Klischees
Der alte Mann, der einst Sherlock Holmes war, setzt sich also daran, die Vorurteile richtig zu stellen und sich selbst zu finden. Seinen letzten Fall schreibt er selber auf.
Unerwartete Hilfe findet Mr. Holmes im Jungen der Haushälterin.
Wenn doch nur seine Erinnerung mitspielen würde. Doch nicht einmal der Szechuan-Peffer, für den er extra nach Japan reist, weil man ihm Heilkräfte nachsagt, wirkt. Hilfe muss also von woanders kommen, und das tut sie, ganz unerwartet: Von Roger, dem Sohn seiner Haushälterin. Sherlock Holmes findet in ihm einen jungen Freund, dessen Neugier und beharrliches Nachfragen irgendwann auch die eingerosteten Gehirnzellen wieder in Schwung bringen. Ganz nebenbei weiht Holmes den Jungen in die Geheimnisse der Bienen ein.
Die Rolle scheint Ian McKellen auf den Leib geschneidert: Er füllt sie mit einer weisen Melancholie aus und überwindet die 30 Jahre, über die sich der Film erstreckt, mühelos. Dabei leistet auch das Make-Up hervorragende Arbeit: Wach ist der Blick des 63-Jährigen, an den sich der 93-Jährige erinnert, dessen faltige Haut mit Altersflecken überzogen ist und dessen Blick zurückgezogen ins Innere und verschleiert. Dieses Gesicht allein trägt beinahe den ganzen Film, und man liest darin wie in einem Buch.
«Mr. Holmes» ist ein wunderbarer Film geworden, der uns einen neuen Blick auf einen etwas wunderlichen Sherlock Holmes anbietet. Und der für einmal – ganz ungewohnt und gerade hier gänzlich unerwartet – darauf verzichtet, den Meisterdetektiv sterben zu lassen. Nicht einmal vermeintlich.
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«Mr. Holmes» läuft ab dem 16. Juli in den Basler Kinos. Mehr Film-Tipps und -kritiken in unserem Dossier: