Lars Henrik Gass: «Multiplexe sind Ausdruck der Krise»

Der deutsche Autor Lars Henrik Gass erklärt, warum grosses Kino im Multiplex weiter schrumpfen wird.

«Das Internet wirkt sich nicht nur ästhetisch auf den Film aus, es beeinflusst das gesamte Kinoerlebnis»: Lars Henrik Gass. (Bild: Kurzfilmtage/Volker Hartmann)

Man würde gerne von einem Umbruch sprechen, allerdings klingt der Kinowandel bei Lars Henrik Gass schwer nach Abbruch. Der 48-jährige deutsche Autor und Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen beschreibt in seinem ebenso knappen wie kritischen Buch «Film und Kunst nach dem Kino» den Niedergang einer «Wahrnehmungsform», die ihrem Publikum einst einen «dissidenten Raum» eröffnete: «Die Möglichkeit einer alternativen Wirklichkeit, das war das Stück Anarchismus im Kapitalismus, der unglaubliche Affront des Kinos gegenüber der Warenwelt, deren Teil es war.» Privat geht Gass nicht mehr ins Kino.

Herr Gass, Sie beschreiben in Ihrem Buch den Niedergang des Kinos, gleichzeitig werden immer neue Multiplexe geplant, auch in Basel. Spricht das nicht gegen Ihre These?

Mir geht es im Buch gar nicht so sehr um die ökonomische Krise des Kinos, sondern eher um das Verschwinden einer Kulturtechnik durch ein stark verändertes Rezeptions- und Freizeitverhalten: Man will Filme heute nicht mehr zu festgelegten Zeiten schauen. Aber selbst wenn es mit der Kino-Nachfrage kurzfristig nach oben geht, ist der Markt seit den frühen 1960er-Jahren doch massiv eingebrochen. Ich glaube, dass die erheblichen öffent­lichen Zuwendungen für die Digita­lisierung, die vor allem in grosse ­Kinos fliessen, diesen Prozess nur verlangsamen können.

Dann ist der Bau solcher ­Multiplexe kein ermutigendes Zeichen?

Multiplexe sind mit Sicherheit Ausdruck der Krise eines Geschäfts­modells. Kurzfristig mag das der richtige Entscheid sein für die kommerzielle Auswertung von Filmen, ich denke aber, dass man nicht darum herumkommt, Kinostrukturen zurück­zubauen und auf einzelne Standorte zu konzentrieren. Man muss sich ­darüber Gedanken machen, wie existierende und über Jahrzehnte funktionierende Strukturen behutsam – behutsam mit ­einem Ausrufezeichen! – «muse­alisiert» werden können: nicht im Sinn einer anachronistischen Form, die heute nicht mehr lustvoll zu ­geniessen ist, sondern indem man Kinoräume beispielsweise multifunktional nutzt und so anders ­erlebbar macht.

«Man kommt nicht darum herum, Kinostrukturen zurückzubauen.»

Der älteste, noch genutzte Kinosaal in Basel, das Küchlin, war früher ein Variété: Muss das Kino zurück zu seinen Wurzeln?

Ich denke, dass es im Kino tatsächlich Schwellenerfahrungen braucht, wie man sie auch vom Theater oder der Oper her kennt. Film wurde ja immer im Verbund mit anderen ­performativen Elementen aufgeführt, die ersten Kinos sahen aus wie Theater. Kulturhistorisch betrachtet, entwickelte das Kino seine Aus­prägung in einem irrsinnig kurzen Zeitraum, von der Grösse der Leinwand bis zum dunklen Saal. Die Verfasstheit dieses Raumes ist enorm wichtig im Hinblick auf die Wahrnehmung von Film: Die ­Immobilisierung der Zuschauer und die Erfahrung als Kollektiv haben eine stark sozialisie­rende Wirkung. Diese Wirkung löst sich immer ­stärker auf.

Wir haben die Leserschaft der TagesWoche online zu deren Kinoverhalten befragt: Eingeschaltete Handys etwa werden oft als Störfaktoren genannt. Braucht es strengere Regeln?

An besseren Festivals werden ja entsprechende Trailer gezeigt, doch mit Sicherheit wird man solche Verbote in der kommerziellen Auswertung von Filmen nicht durchsetzen können. Das Internet und die mobilen Endgeräte wirken sich eben nicht nur ästhetisch auf den Film aus und antizipieren unser verändertes Sehverhalten, sie beeinflussen das gesamte Kinoerlebnis. Dazu passt das Multiplex als entsprechendes «Outlet».

Kinobetreiber beschwören oft das Gemeinschaftserlebnis, wenn es um Film geht. Zu Recht?

Das ist sicher nicht falsch, besonders mit Blick auf die Festivals. Diese waren ja ursprünglich dazu gedacht, Filmen eine Plattform zu bieten, die anderswo ausgewertet wurden. Heute allerdings sind Festivals für viele Filme bereits die Endstation, das ist die traurige Realität. Es wäre also eine Überlegung wert, ob man die geregelte Musealisierung des Kinos mit der Entwicklung der Festivals zusammenbringen kann. Daneben wird die kollektive Erfahrung im Kino sicher weiter eine Rolle spielen, auch wenn ich glaube, dass die Verleiher ihre eigenen Geschäftsmodelle auf Kosten der Kinos zu retten versuchen, indem sie DVDs und Videos On Demand immer schneller veröffentlichen. Dieser Prozess lässt sich nicht aufhalten. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in zehn Jahren die Handys wieder ausschalten und uns ins Kino setzen werden.

Sie beschreiben in Ihrem Buch den Doppelcharakter von Film als Kulturgut und Ware: Geht das Kino letztlich daran zugrunde?

Das Profitstreben hat mich am Kino immer interessiert. Das Kino wurde ja nicht wie das Theater und die Oper von der Bürgerschaft getragen und subventioniert. In diesem Prozess etablierte sich ein einzigartiges Rezeptionsmodell von Kino, das jetzt durch eben diesen kommer­ziellen Antrieb und die Digitalisierung wieder infrage gestellt wird. Da sind wir politisch und gesellschaftlich gefordert: Wollen wir Kino in einer bestimmten Ausprägung für zukünftige Generationen bewahren, hat das einen gesellschaftlichen Wert? Und ich denke, wir müssen diese Fragen schnell ­beantworten, sonst ist davon bald nichts mehr übrig.

Lars Henrik Gass: Film und Kunst nach dem Kino, Philo Fine Arts, 2012.

Nächster Artikel