Mit seiner Zukunftsprognose lag er falsch, dennoch hat er unsere kulturelle Gegenwart geprägt: Vor 30 Jahren erschien der Science-Fiction-Roman «Neuromancer» von William Gibson.
Das Internet hat William Gibson nicht erfunden, aber ohne ihn würden wir anders über das Eintauchen in den virtuellen Raum reden. Vor 30 Jahren, bezeichnenderweise im Jahr 1984, erschien seine wüste Dystopie «Neuromancer», eine Zukunftsvision, die erstmals den Raum zwischen den Telefonhörern erschloss.
Den Begriff des «Cyberspace» führte er bereits zwei Jahre zuvor in der Kurzgeschichte «Burning Chrome» ein, aber erst im «Neuromancer» entstand die postapokalyptische Welt, deren Fluchtpunkt der Cyberspace bildete: Wer sich über eine neuronale Schnittstelle in diesen körperlosen Raum einloggte, war mit der ganzen Welt verbunden – und entkoppelt von der korrumpierten diesseitigen Welt.
Der Roman entstand noch im Geist des Kalten Kriegs: In Gibsons Zukunftsszenario haben sich Ost und West gegenseitig in einem Atomkrieg nahezu ausgelöscht, die Welt wird beherrscht von Militärs, korrupten Regierungsmitgliedern und Superkonzernen. Dazwischen versuchen Kleinkriminelle wie die Hauptfigur Case sich durchzuschlagen.
Erlösungserwartung im virtuellen Raum
Case, ein ehemaliger Hacker, hat einen Teil seines Nervensystems und somit den Zugang zum Cyberspace verloren. Er trifft auf die künstliche Intelligenzform Wintermute, die ihm ein «Reload» verspricht. Im Gegenzug soll Case seine Hacker-Fähigkeiten unter Beweis stellen und Wintermute mit ihrem Gegenstück Neuromancer kurzschliessen, um ihre programmierten Fähigkeiten zu erweitern und eine umfassende Form von digitalem Superbewusstsein zu schaffen.
All das klingt noch heute, wo Hacker, Cyberspace und künstliche Intelligenz längst Gegenstände der Alltagssprache sind, reichlich abgefahren. So epochal Gibsons Projektion, dass sich Menschen zu globalen Communitys vereinen werden, um neue, kollektive Räume zu erschliessen, in dieser Frühphase des individuellen Netzanschlusses war, so deutlich schoss seine Vision an der tatsächlichen Zukunft vorbei.
Gibsons düsterer Science-Fiction-Roman war nachweislich geprägt durch die Erfahrungen der Achtzigerjahre: durch die totale Bedrohung durch Atomwaffen, durch die scheinbar unaufhaltsame Wirtschaftskraft der Computerindustrie Japans, durch die sich anbahnende Globalisierung und den entfesselten Marktliberalismus, der die Gesellschaften in Gewinner und Verlierer trennte. Gleichzeitig versprach der Cyperspace einen neuen, unerschlossenen und utopischen Raum, der ausserhalb des Zugriffs irdischer Mächte zu existieren schien und Erlösung versprach.
Das Versagen der Science-Fiction
1996 deklarierte John Perry Barlow mittels der «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace» denselben als autonome Zone jenseits aller Klassenverhältnisse, und 1999 brachten die Wachowski-Brüder «Matrix» ins Kino, ebenfalls eine Wortschöpfung Gibsons. Hier schien seine Prophetie umfassend umgesetzt: Während in der echten Welt die Menschen längst von der Technologie unterworfen wurden, finden sie in der Matrix ein generiertes, künstliches Bewusstsein, ihre Erlösung, derweil ihre Körper im Diesseits komplett versklavt sind.
Gibsons Vision ist heute höchstens in allegorischer Form eingetreten. Die Welt hat keine apokalyptische Transformation durchlebt; der Cyberspace, als Begriff weitläufig ersetzt durch das World Wide Web, wurde nicht von künstlichen Intelligenzen gekapert, sondern den bereits vorher existierenden marktwirtschaftlichen Verhältnissen unterworfen; Menschen loggen sich nicht über ihren eigenen Körper ins Netz ein, sondern mittels Smartphones.
«Neuromancer» hat nachhaltig die Popkultur inspiriert, nicht nur im Film, sondern auch in Computergames, in Rollenspielen und gar in der Musik: Billy Idol liess sich von Gibson für sein Album «Cyberpunk» inspirieren, und die Baslerin Anna Aaron hat jüngst ihr Album «Neuro» veröffentlicht, das den dystopischen Geist von Gibsons Roman in einen dunklen Sound übersetzt, in dem verstörender Blues auf Elektrobeats trifft.
Die Gegenwart aber sieht anders aus, als 1984 prophezeit. Das sieht auch Gibson so: Science-Fiction habe versagt, «weil fast nichts von den Dingen eingetroffen ist, die in Science-Fiction-Romanen prophezeit worden sind. Wir haben so gut wie immer unrecht gehabt», sagte er jüngst in einem Interview mit dem «Spiegel».
«Neuromancer» war der Grosserfolg des 1948 geborenen US-Schriftstellers William Gibson, mit dem er alle wichtigen Preise der Science-Fiction-Literatur abräumte. Seither hat er schrittweise diese Gattung verlassen und sich mit seinen Romanen der Gegenwart angenähert. Seine jüngste, kürzlich abgeschlossene Trilogie «Bigend» ist ein Wirtschaftsthriller, der in den Metropolen unserer Zeit spielt. Geblieben ist sein düsterer Blick auf die Welt: «Bigend» formuliert fundamentale Kritik am Kapitalismus, dessen globale Dominanz laut Gibson die Menschen gegenüber Krieg und Leid abstumpfen lasse.