Mickey Mouse, Tim und Struppi oder Sailor Moon – die Helden der Kindheit sind Zeichentrickfilmen entsprungen. Doch Animation ist nicht nur Kinderkram. Sie behandelt auch Themen wie Krieg, Krankheit oder Flucht. Über die Möglichkeiten von Animation und ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft.
Eine Gruppe von Knet-Schafen reist in die Grossstadt auf der Suche nach ihrem Bauern. Die Fee Tinkerbell entdeckt ein brüllendes Fabelwesen und das süsse Alien «Oh» versteckt sich vor seinen zornigen Artgenossen auf dem Planeten Erde. Diese Geschichten gibt es zurzeit in allen Schweizer Kinos zu sehen. Dabei wird oft vergessen, dass Trickfilme nicht nur Themen für Kinder behandeln, sondern durchaus ernst, politisch oder tragisch sein können.
Die Welt der Animation scheint gegenüber dem Spielfilm gar grenzenlos zu sein: Was in der Realität fehlt, wird gezeichnet, Handlungen können poetisiert werden und Toneffekte sind oft facettenreicher als im realen Film. Auch die Annahme, dass sich der Zuschauer mit animierten Figuren nicht identifizieren kann, wurde oft genug widerlegt.
Ein Beispiel ist «Crulic – der Weg ins Jenseits», ein Film der rumänischen Regisseurin Anca Damian aus dem Jahr 2011. Er erzählt die wahre Geschichte eines rumänischen Gefangenen in Polen namens Crulic, der zu Unrecht verurteilt wurde. Um Gerechtigkeit zu erlangen, trat er in den Hungerstreik und stirbt schliesslich. Die Nähe zum Protagonisten ist in diesem Film verblüffend. Die Empathie wird dabei vor allem durch die Erzählform der Ich-Perspektive erzeugt. «Es macht einen grossen Unterschied für den Zuschauer, ob er hört ‹Crulic stirbt› oder ‹Ich sterbe›», sagt Damian.
Dabei ist «Crulic» ihr erster Animationsfilm, davor hat Damian Spiel- und Dokumentarfilme gedreht. Eine Dokumentation schien ihr im Fall von Crulic nicht geeignet, vor allem weil Material fehlte. Schnell merkte sie, dass es keinen besseren Weg als die Animation gibt, um Nähe zu dem Protagonisten aufzubauen. Den Verfall des Körpers während eines Hungerstreiks beispielsweise hätte sie mit Schauspielern niemals so detailgetreu nachstellen können. Schliesslich, fügt Damian hinzu, sei der Animationsfilm ehrlicher als ein Dokumentarfilm. «In Dokumentationen ändern wir Zeit, Ablauf der Handlung und bearbeiten im Schnittraum Ton und Bild.» Die Produktion sei letztlich genauso subjektiv. Der Unterschied: Animation gaukle keine Realität vor.
Damians Film ist thematisch jedenfalls nicht für die Kinderzimmerkulisse geeignet. Zwar hat der Film international 35 Preise bekommen, dennoch schaffen es politische Trickfilme dieser Art im deutschsprachigen Raum nur selten auf die Leinwand. Dabei war der Animationsfilm in seinen Anfängen gar nicht für Kinder gedacht.
Der älteste Animationsfilm der Geschichte
Als Erste zeigten Schausteller Trickfilme um das Jahr 1910, die ausschliesslich zur Unterhaltung der Erwachsenen dienten. In den 1920er-Jahren gelangte das Genre in intellektuellere Bereiche wie Kunst und Literatur. Vom Arbeiteraufstand und der Revolution erzählt zum Beispiel der Regisseur Berthold Bartosch in seinem 1932 produzierten Streifen «Die Idee». Er gilt als einer der ersten ernsthaften Animationsfilme der Geschichte.
Dann kam Walt Disney. Erst mit ihm wurden Trickfilme für Kinder interessant. Sie erzählten einfach gestrickte Geschichten von Freundschaft oder Liebe und zauberten Märchen auf die Leinwände. Eigene Charaktere und Marken entstanden. Die Nazis nutzten die Comicfiguren während des Krieges zwar zu Propagandazwecken und liessen Donald Duck in einer SS-Uniform über die Kinoleinwand spazieren. Während der Nachkriegszeit jedoch kamen die politischen Trickfilme in Verruf, die Menschen sehnten sich nach Unterhaltung und Ablenkung. Der animierte Kinderfilm versprach beides, eine Dramaturgie ohne Ecken und Kanten. Bis heute setzt er sich auf dem deutschsprachigen Markt durch.
Auch grosse Kinohits wie jene mit der Biene Maja oder dem kleinen Eisbären haben dazu beigetragen, dass der deutsche Trickfilm mit dem Image des Kinderfilms behaftet bleibt. Kinderfilme sind gut und wichtig, aber es würde der Filmbranche guttun sich zu besinnen, was Animation sonst noch zu bieten hat.
Das findet auch Rolf Giesen, deutscher Filmwissenschaftler und Journalist. Dabei bemängelt er unter anderem die Standardisierung von Handlungen. «Das Geheimnis des Animationsfilms sind die Nuancen, Dinge, die man zwei Mal sehen will, Unerwartetes – das geht langsam alles verloren», sagt Giesen. Dabei wäre es sinnvoll, das Spektrum der Animation zu erweitern, schliesslich liege in ihr die Zukunft. «Im digitalen Zeitalter liegt viel Potenzial in Animationsfilmen.»
Er sieht es als Ressourcenverschwendung, sie nur als Kinderfilme zu kategorisieren. «Es darf nicht sein, dass Filmförderer ein Manuskript ablehnen, nur weil es zu politisch ist», sagt Giesen. Er hofft deshalb auf «einen grossen Wurf, an den man sich auch in fünfzig Jahren noch erinnert.» Erst dann könne der Animationsfilm wieder ernst genommen werden.
Als Beispiel nannte er die folgende Anekdote:
Dem Illustrator Dirk Flach war die Idee nicht zu politisch, er hat sie umgesetzt:
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Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Zeitenspiegel-Reportageschule und der Akademie für bildende Künste Stuttgart. Mehr dazu in in diesem Blog.