Fördert der «Europäische Gedanke» den Frieden?

Warum steht die Friedenssicherung nicht im Fokus der europapolitischen Debatte? Ist die EU die richtige Instanz, um Kriege zu verhindern? Und welche Rolle kommt dabei der Schweiz zu? Diesen Fragen stellte sich ein Podium der «Neuen Europäischen Bewegung Schweiz».

Die Diskussionsrunde zum «Europäischen Gedanken» (v.l.n.r.): Emil Angehrn, Andreas Gross, Matthias Bertschinger und Lukas Engelberger. (Bild: Lukas Tschopp)

Warum steht die Friedenssicherung nicht im Fokus der europapolitischen Debatte? Ist die EU die richtige Instanz, um Kriege zu verhindern? Und welche Rolle kommt dabei der Schweiz zu? Diesen Fragen stellte sich ein Podium der «Neuen Europäischen Bewegung Schweiz».

Gestern Freitag jährte sich das Ende des zweiten Weltkriegs in Europa zum siebzigsten Mal. Aus diesem Anlass hat die Basler Sektion der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS) zu einer Podiumsdiskussion in den Ackermannshof geladen. Titel der Veranstaltung war «Der Europäische Gedanke – Europa als neuer Ort der Demokratie? Wie weiter mit dem Friedensprojekt Europa?».

Der Hass im Menschen

Der Europäische Gedanke – was ist das? Matthias Bertschinger, Präsident der NEBS Sektion Basel, versteht darunter «die politische, demokratische und rechtliche Integration Europas». Sie sei die Bedingung für Frieden und Freiheit der europäischen Bürger. Im Falle der europäischen Nationalstaaten heisst das, einen Teil der eigenen Souveränität nach Brüssel abzutreten. Die Nebs hat zudem heute Samstag verlauten lassen, sich für eine neue Europaabstimmung im Jahr 2017 zu engagieren.

Bertschinger stellte sich die Frage, weshalb sich die europapolitische Debatte kaum um das Schaffen von Frieden und Freiheit dreht. Eine mögliche Antwort sieht er in der Abkehr vom menschlichen Bewusstsein: Bertschinger plädierte dafür, bestimmte Bewusstseins-Phänomene wie Hass oder Ressentiment wieder stärker aus sich selbst heraus zu verstehen.

Hass und Ressentiment seien nicht einfach nur Begleiterscheinungen eines beobachtbaren Konkurrenzverhaltens. «Um zu verstehen, welche psychologischen Kräfte die Friedensbemühungen lähmen, muss das menschliche Bewusstsein in die Analyse miteinbezogen werden», forderte Bertschinger.

Auch die Angst ist politikrelevant

An diesem Punkt knüpfte die Podiumsdiskussion an. Mit von der Partie waren drei Öffnungs-Befürworter, nämlich Emil Angehrn, emeritierter Professor für Philosophie der Uni BaselSP-Nationalrat, Politologe und Europarat Andreas Gross sowie CVP-Regierungsrat und Jurist Lukas Engelberger.

Emil Angehrn betonte, dass neben Hass oder Ressentiment eben auch die menschliche Angst eine politikrelevante Rolle spiele: «Der Umgang mit Angst ist basal für die Fähigkeit zur Öffnung.» Vertrauensbildung und Bindungsfähigkeit seien wichtige Voraussetzungen, um sich überhaupt öffnen zu können, zwischenmenschlich genauso wie aussenpolitisch.

Dem stimmte auch Andreas Gross zu: «Die Angst ist ein Mittel, um Krieg zu legitimieren. Das lässt sich empirisch belegen.» Und gerade in angsterfüllten Zeiten wirke die Kraft der Nationalstaaten besonders stark: «Der Nationalstaat schafft Geborgenheit und Sicherheit und wirkt damit als Mittel gegen die Angst.»

Jugendarbeitslosigkeit: Die EU als Unfriedensstifter?

Die transnationale Integration sei notwendig, und die EU dafür die einzige Alternative, ist sich Gross sicher. Leider habe es die EU bisher aber nicht geschafft, die Demokratie in ihr Projekt zu integrieren; diese sei nach wie vor nationalstaatlich. «Im Zuge der Globalisierung der Märkte lässt sich aber keine Nationalstaaten-Politik mehr machen. Es gibt nur noch eine Weltinnenpolitik.»

Das Fehlen einer gemeinsamen Verfassung sei ein wesentlicher Grund für die heutigen Probleme innerhalb der EU. In ihrem Innern avanciere sie deshalb eher zum Unfriedens- denn zum Friedensstifter: «Wenn in bestimmten Nationen 50 Prozent der jungen Leute keine Arbeitsperspektiven haben, dann ist das eine Unfriedensstiftung.»

Der europäische Gerichtshof in Luxemburg interpretiere die Kapitalfreiheit derart absolut, dass sämtliche politischen Entscheide, die diese Kapitalfreiheit behindern könnten, für ungültig erklärt würden. Diese Vertragsstruktur sei die Ursache einer solch hegemonialen Rechtssprechung, an der die Politik ständig anstehe. Dies gelte es zu verändern, so die Kritik von Gross an der EU.

Engelberger: Vorzüge der EU betonen

Lukas Engelberger indes würdigte den beachtlichen Leistungsnachweis der EU: So habe sie bisher den Anspruch, innerhalb ihrer Grenzen Kriege zu verhindern, einlösen können. Es sei wichtig, die Vorzüge des europäischen Projekts und dessen friedenssichernde Rolle zu betonen: «Wir in der Schweiz geniessen einen hohen Lebensstandard, der uns letztlich von der EU gegeben ist.»

Doch warum hält sich die Schweiz in Sachen europäischer Integration derart zurück?

In Anlehnung an Dürrenmatt stellte Andreas Gross fest, dass des Schweizers Kriegserfahrung ihn glauben lässt, er hätte Europa nicht nötig. «Die Schweiz hat im Alleingang drei europäische Katastrophen überlebt, wenn auch auf grausam kluge Art und Weise.» Dies habe zu einer Art «Wir schaffen das auch alleine»-Mentalität geführt.

Ohne Zuwanderer funktioniert nichts

Was in der Schweiz fehlt, so Emil Angehrn, sei eine bestimmte Ehrlichkeit und Offenheit in der Zurkenntnisnahme der eigenen Situation, und auch des europäischen Projekts. «Der europäische Prozess ist letztlich alternativlos und nicht rückgängig zu machen.»

Ein Tenor, in den auch Lukas Engelberger einstimmte: «Gerade im Gesundheitswesen würde ohne die vielen Grenzgänger und Zuwanderer, die bei uns leben und arbeiten, nichts funktionieren.» Deshalb solle man in der Schweiz die Vorteile und die übereinstimmenden Interessen mit der EU viel stärker betonen, so Gesundheitsdirektor Engelberger.

Matthias Bertschinger sprach sich schliesslich für mehr Ehrlichkeit im Diskurs und gegen den Missbrauch des Vokabulars aus: «Wir müssen den Mut aufbringen, Falschaussagen und Ressentiments der Integrations-Gegner ins Unrecht zu setzen und von Europa ein realistisches Bild zu zeichnen.»

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