Noch ein Sonderfall

Der Schweizer Buchpreis ist nicht ganz fair, und die Marktstrukturen behindern den literarischen Export.

(Bild: Nils Fisch)

Der Schweizer Buchpreis ist nicht ganz fair, und die Marktstrukturen behindern den literarischen Export.

Nein, ich bin kein Schweizer Schriftsteller, sondern ein deutschsprachiger», sagte Catalin Dorian Florescu am 22. September 2012 an einer Literaturveranstaltung am Bodensee, in einem ­bestimmten und deutlichen Ton, der zu verstehen gab, dass der Begriff «Schweizer Literatur» passé sein soll.

Im Harenberg Literaturlexikon (Ausgabe 1997) wird unter «Schweizerische Literatur» auf Seite 1128 verwiesen: «Übersicht Deutschsprachige Literatur». Beim Aufblättern präsentieren sich Namen in einer Liste ohne Länderangabe mit Geburts- und Todesjahr und den wichtigsten Buchtiteln. «Mehr oder weniger», schrieb Klaus Pezold im Buch «Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert» (Berlin, 1991), würden Schweizer Autoren «direkt der Literatur der Bundesrepublik zugeordnet, während gleichzeitig die Literatur der DDR und zumeist auch die Österreichs eine gesonderte Darstellung» fänden.

Regional- statt Nationalliteratur

Angesichts dessen, dass die Schweiz weniger Einwohner als die Bundesländer Baden-Württemberg oder Bayern aufweist, müsste die Frage erlaubt sein, ob nicht eher von einer Regionalliteratur gesprochen werden soll. Also im Vergleich mit der schwäbischen, tirolerischen, hessischen oder niedersächsischen. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zeichnet jährlich den «besten Roman in deutscher Sprache aus», also haben durchaus Schreibende aus Österreich und der Schweiz eine Chance. Beim Schweizer Buchpreis hingegen vergibt die Jury eine «Auszeichnung für das beste erzählerische oder essayistische Werk einer Schweizer Autorin beziehungsweise eines Schweizer Autors».

2010 erhielt die als fünfjähriges Mädchen eingewanderte Melinda Nadj Abonji den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Die diesjährige Preisträgerin in Deutschland, Ursula Krechel, hätte für den Schweizer Preis keine Chance, da sie weder Schweizerin ist noch in der Schweiz lebt. Wieso dieser Unterschied, wieso keine Schweizer Variante analog zum Deutschen Preis? Warum die geografische, ja, politische Einengung?

Dorothee Elmiger, Matthias Zschokke und Thomas Hürlimann stammen aus der Schweiz, leben und schreiben aber in Berlin, Monique Schwitter in Hamburg. Michail Schischkin und Zsuzsanna Gahse sind in Russland und Ungarn geboren, aber mittlerweile in der Schweiz eingebürgert. Wer von den Genannten gehört nun zur Schweizer Literatur? Heinz D. Heisl aus Innsbruck und Ulrike Ulrich aus Düsseldorf haben ihren Wohnsitz in der Schweiz und beide schreiben grösstenteils hierzulande an ihren Büchern. Die in Schaffhausen geborene Ursula Fricker lebt schon eine Ewigkeit bei Berlin und ihr Roman «Ausser sich» lässt sich weder geografisch noch politisch, sondern nur in seelischen und psychologischen Welten verorten. Silvio Huonder lebt und schreibt ebenso seit vielen Jahren am Schwielowsee in Brandenburg. Nach seinem ortsneutral gehaltenen Roman «Dicht am Wasser» führt «Die Dunkelheit in den Bergen» nach Graubünden, in seinen Herkunftskanton. Mittlerweile ist er Doppelbürger. Sibylle Berg, geboren in Weimar und heute in der Schweiz zu Hause, ist ein Teil des eidgenössischen Literaturschaffens.

Weltliteratur aus dem Hinterland

Der Grossteil der in der Schweiz produzierten Literatur ist mit dem gesamtdeutschprachigen Markt kompatibel. Eine Buchhändlerin in Hausach in Baden-Württemberg las das Buch «Spaziergänger Zbinden» des Berners Christoph Simon und war dergestalt begeistert, dass sie es allen ans Herz legte, so dass das Buch im schwarzwälderischen Kinzigtal zum Bestseller wurde. Simon erzählt darin die kleine Welt eines Mannes im Altersheim, von der er bei seinen Spaziergängen einem Zivildienstleistenden erzählt, ja, schwadroniert. Die Lektüre lässt die vielen Gedanken der Hauptfigur zu einer grossen Welt im Kopf des Lesenden werden.

Eine gewisse Ähnlichkeit findet sich im lesenswerten Roman «Hungertuch» des Schriftstellers Martin Stadler aus dem Kanton Uri. In diesem dichten Textkonvolut thematisiert Stadler nicht nur die engen Sorgen und Mühen der Bewohner eines Dorfes in der Zentralschweiz, sondern eigentlich die Fragen, die jeden Weltenbürger umtreiben. Und Peter Stamm wurde als Stadtschreiber nach Mainz eingeladen. Vielen Leserinnen und Lesern in Deutschland ist seine Thurgauer Herkunft nicht bewusst.

Allerdings erscheinen immer wieder Bücher, die genau das Gegenteil versuchen, indem sie die Texte und Geschichten bewusst mit dem lokalen Umfeld einfärben. Ein Musterbeispiel dafür ist der Roman «Vrenelis Gärtli» von Tim Krohn, der 2007 ein eidgenössischer Bestseller wurde. Arno Camenisch baut in seiner Trilogie «Sez Ner», «Hinter dem Bahnhof» und «Ustrinkata» Versatzstücke aus dem Rätoromanischen und bündnerische Mundart in den deutschen Text ein. Beide Autoren lassen den Singsang des Dialekts aus den Kantonen Glarus und Graubünden erklingen, was das eigene Lesen zu einem Abenteuer macht und den Duft der Alpenwiesen und Ziegenställe in die virtuelle Nase aufsteigen lässt. Typisch Schweizer Literatur? Da werden Leserinnen und Leser in Deutschland und Österreich heftig nicken, obwohl bei Krohn und Camenisch keine Mundart-Literatur vorliegt, sondern das Schwergewicht auf der Hochsprache liegt.

Die Robert Bosch Stiftung in Stuttgart zeichnet «deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache» aus. Dazu gehören zum Beispiel Terézia Mora, Artur Becker, Sudabeh Mohafez, Feridun Zaimoglu, Ilma Rakusa und Zsuzsa Bánk. Sie alle schreiben auf Deutsch, aber lassen zum Teil Erzählstrukturen und Sprachklänge bewusst aus ihrer ursprünglichen Sprachlandschaft mit einfliessen, so dass mit der deutschen Sprache ganz Neues passieren kann. Ihre Bücher werden nicht als polnische oder türkische Literatur in der Presse besprochen – für die einen ein Dilemma, für die anderen ist es ziemlich wurst, Hauptsache, das Buch ist gut.

Literarische Binnengrenze

Schweizer Literatur hört oft binnenmässig bei der Sprachgrenze Gotthard oder Jura auf. Auch für Verlage und Herausgeber. Als der Literaturprofessor a. D. Peter von Matt mit dem Verleger Dirk Vaihinger von Nagel & Kimche 2002 eine Sammlung der «Schönsten Schweizer Gedichte» veröffentlichte, wurde kritisiert, dass die Lyrik aus der nichtdeutschsprachigen Schweiz fehle. Auch wenn der Titel vielleicht anders hätte heissen sollen, ist die editorische Vorgehensweise nachvollziehbar. Literatur ist sprachspezifisch und funktioniert dementsprechend auch in diesem Sprachraum.

Die Literaturszene und die Buchbranche in der französischen wie italienischen Schweiz richten sich genauso stark auf das gleichsprachige Ausland aus, wie es die deutsche Schweiz tut. Für Hobbypatrioten scheint dieser Umstand störend zu sein, aber für grosszügige Geister gehört es zur Schweiz, wie sie eben ist. Dass das für den Prix Goncourt nominierte Buch des Genfer Schriftstellers Joël Dicker in keiner deutschen Übersetzung vorliegt, könnte als Skandal bezeichnet oder als typisches Desinteresse zwischen den beiden Sprachlandschaften verstanden werden, als müsste der Röstigraben unter Denkmalschutz ­gestellt werden.

Die hartnäckige Nachhaltigkeit in der Wahrnehmung von Frisch und Dürrenmatt als die Schweizer Literatur basiert wohl auf ihrer Aus­einandersetzung mit der Schweiz. Es gibt drei profanere Gründe, denn Lukas Bärfuss, Adolf Muschg und Peter Bichsel reflektieren auch heute die schweizerische Befindlichkeit.

1. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges lechzte Deutschland nach Autoren, die deutsch schreiben, aber woanders herkommen.
2. Die Öffentlichkeit sowie die beiden Autoren liebten und nutzten lange Debatten, Diskussionen mit Bühnenpräsenz, die die heutige Häppchenkultur der Medien fast nicht mehr zulässt.
3. Im Lärm und Getöse der medialen Masse mit Eventzirkus, Promi-Talks und nervösem Klicken im Web verpixelt sich ein Essay, ein kri­tisches Buch oder ein langes Interview im Kultur­teil der Zeitung schneller, als dass ein PC heruntergefahren werden kann.

Pedro Lenz ärgerte sich kürzlich in einem Interview mit der «Zeit» über die gesellschaftliche Verdummung und appellierte für mehr Solidarität im Land. Doch wie lange hallt dieses Anliegen in einer Gesellschaft nach, die immer mehr einer Maximalrendite nachrennt und Gratisblätter aus den Boxen zupft, weil es nichts kostet?

Fazit: Im 21. Jahrhundert kann die Literatur nur noch dann länderspezifisch eingeordnet werden, wenn konkret sprachliche Referenz angewandt wird.

Ladehemmung im Literaturexport

Die Vermittlung der Literatur ist hierzulande ein anderes und oft auch ärgerliches Thema. Im Verlag Nachtmaschine in Basel erschien 2008 der Roman «Das böse Mädchen Gisela» von Markus Stegmann, das durch den Literatur-Fachausschuss der beiden Basler Kantone mit grosser Begeisterung gefördert wurde. Doch nach Erscheinen war es totenstill um die kunstvolle Erzählung aus der Sicht eines Mädchens, das nicht von dieser Welt ist. Der Roman ist im wichtigen Verzeichnis der lieferbaren Bücher nicht auffindbar. Entweder weigerte sich der Verlag, die Re­gistrierungs­gebühr zu bezahlen, oder er hat es vergessen. So bleibt der schöne und mit Steuergeldern geförderte Roman für die lesende Öffentlichkeit ein Geheimnis.

Anfragen in Buchhandlungen in Berlin, Karlsruhe und Dortmund ergeben, dass der Schweizer Autor Franz Hohler nach wie vor bekannt ist. Dennoch staunten die Buchhändlerinnen jeweils nicht schlecht, als nach dem Titel «Eine Kuh verlor die Nerven» gefragt wurde. Sie kennen seine Titel, die im in den Randomhouse-Konzern integrierten Verlag Luchterhand erschienen sind, aber das erwähnte Buch im Knapp-Verlag in Olten kennen sie nicht.

Die kostenintensive und komplexe Vertriebsstruktur im deutschsprachigen Buchhandel garantiert eine Liefergeschwindigkeit, die fast nur vom Medikamentenvertrieb für Apotheken übertroffen wird. Die schwindelerregende Vertriebsperfektion kostet Geld, das kleinere Verlage sich nicht leisten können. Zwei Beispiele: Von der Krimiautorin Mitra Devi erscheinen die Geschichten der Privatdetektivin Nora Tabani im Appenzeller Verlag. Schöne gebundene Bücher mit vorbildlichem Lektorat. Wegen fehlender Vertriebsvertretung im Ausland bestellt keine Buchhandlung in Österreich oder in Deutschland davon einen Stapel für die Krimiabteilung.

«Das Gesicht» heisst der neue und dritte Roman des Baslers Dominik Bernet über einen Giftanschlag im Grossmünster Zürich im 18. Jahrhundert, mit ­Lavater als Ermittler. Hierzulande geniessen beide Schreibende Erfolge, gute Besprechungen und Absatzzahlen von 3000 bis 5000 Exemplaren, die für Schweizer Verhältnisse erfreulich sind. Ab deutscher und österreichischer Grenze ist jedoch Schluss mit der Präsenz. Erscheinen diese Romane später als ­Taschenbücher, in diesen Fällen beim Unionsverlag und Piper, dann interessiert sich das Feuilleton nicht mehr dafür, da es keine Novitäten mehr sind. Mit ­anderen Worten: Eine ausgeklügelte und kosten­intensive Buchhandelsstruktur lässt gewisse Verlage aus kaufmännischen Gründen verzichten, mit der Erstausgabe im benachbarten Ausland zu werben.

Hemmendes Kleingedrucktes

Hemmend für eine Artenvielfalt der Literatur können auch die Teilnahmebedingungen für den Schweizer Buchpreis sein, die besagen, dass teilnehmende Verlage Mitglied des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes (SBVV), des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels oder des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels sein «müssen». Was, wenn der Verlag sich eine Verbandsmitgliedschaft nicht leisten kann, aber schöne Literatur macht? Genau genommen müsste von einem verbandsinternen Wettbewerb die Rede sein und nicht von der Auszeichnung einer Kunst. Zusätzlich muss der Verlag «rechtlich selbstständig» sein. Wieso eigentlich? Der Christoph Merian Verlag ist zwar Mitglied beim SBVV, aber rechtlich in einer Stiftung eingebettet, also nicht als Unternehmen selbstständig. Unnötige Bedingungen können für so manchen Text die Starterlaubnis verhindern.

In Anbetracht dessen, dass Schweizer Textil­unternehmen in Indien produzieren, Schweizer ­Lebensmittelketten nach Deutschland expandieren und der Schweizer Buchhandel bis zu 85 Prozent vom deutschen Marktangebot lebt, müsste sich der Schweizer Buchpreis für die allgemein deutsch­sprachige Literatur öffnen, so dass eine Autorin oder ein Autor aus Österreich oder Deutschland das Preisgeld in Basel abholen darf, wie Melinda Nadj Abonji es 2010 in Frankfurt durfte.

Ein Blick in die ins Haus flatternden Verlags­prospekte kann den professionellen Kulturpes­simisten wieder beruhigen. Kleine und neue Verlage wagen dem Bestsellerstrom mit neuen Büchern ­Paroli zu bieten. Verlage wie Menschenversand, Luftschacht, Klever, Kyrene, Edition BAES, Limbus, Arco, Weissbooks, Secession, Pudelundpinscher, Knapp, Schwarzdruck, Edition Meerauge, Edition Laurin, Babel oder Dahlemer Verlags­anstalt tun dies hartnäckig und mit Erfolg. Noch nie gehört? Na dann, fröhliches Entdecken!

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.11.12

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