Lady Gaga lüftet den Schleier – und zeigt beim ersten von zwei ausverkauften Konzerten im Zürcher Hallenstadion erstmals den Menschen hinter der Gaga-Maschine.
Frauen im Pop, das ist nach wie vor eine zwiespältige Angelegenheit: Denn können sie auch an die 100 Millionen Platten verkauft, Evergreens geschrieben, bahnbrechende Shows kreiert oder mit einem Fleischkleid die Modeindustrie revolutioniert haben, am Ende kulminiert alles in der Frage: «Wie dick ist ihr Hintern?» So geschehen auch bei Pop-Ikone Lady Gaga, deren Gewichtszunahme in der hiesigen Presselandschaft breit als Grund dafür kolportiert worden war, dass bei ihrem Schweizer Doppelauftritt überraschend ein Fotografie-Verbot verhängt wurde.
Und jetzt, endlich, ist er da, der Moment, auf den insgeheim alle gewartet haben: Lady Gaga hebt ihren Rock und präsentiert dem ausverkauften Zürcher Hallenstadion ihr nacktes Hinterteil. Es ist eine direkte Ansage, eine in cooler Leck-Mich-Attitüde vorgetragene Antwort auf all die hämischen «Lady Giga»-Schlagzeilen, als hätte sich die First Lady des Pop mit ihrer Zunahme in eine Persona Non Grata verwandelt.
Und doch wird er nun gleichzeitig zu etwas anderem: Zum Moment der Wahrheit, zur Gretchenfrage und zum Wendepunkt des Abends. Denn hier geht es für einmal nicht um die kalkulierte Provokation, um Sexappeal oder Fleischbeschau – es ist vielmehr eine eigentliche Entblössung. Ein Popstar, der seine eigene visuelle Selbstinszenierung, das Spiel mit den Projektionen auf die Spitze getrieben hat wie wohl noch nie jemand zuvor, verwandelt sich zurück in eine Frau, die ein paar Kilo zugelegt hat, und fragend in die Runde schaut: «Was meint ihr, sehe ich so noch okay aus?»
Irgendwie gruselig
Natürlich tut sie das, natürlich ist die Sängerin alles andere als dick, sondern allerhöchstens normalgewichtig – aber in diesem Moment bricht der Bann, bricht die Distanz, bricht die Pop-Lady selbst mit ihrer eigenen, hyperartifiziellen Gaga-Maschine, die sie erst zum Megastar gemacht hat, und mit der sie zuvor bereits eine Stunde lang eine perfekte Show abgeliefert hatte.
Zwar war da alles dabei: Der Einritt auf dem schwarzen Einhorn, die Geburt aus der Vagina einer monströs kugelrunden Urmutter, die akrobatischen Choreographien Dutzender Begleittänzer vor düsterem Märchenschloss, und eine Rundfahrt auf einem motorisierten meterhohen Designer-Hochzeitskleid – aber trotzdem blieb dieses Mega-Cabaret, diese Musical-Revue des «Born this Way-Balls» der selbsternannten «Mother Monster» gespenstisch unterkühlt, ja irgendwie gruselig: Mehr Konzept- oder Performancekunst als Show, mehr Catwalk als Konzert. Und die Musik, darüber muss man sich bei diesen schematisch immer gleichen, eingängigen Electro-Pop-Stampfern im soundtechnisch schwierigen Hallenstadion sowieso keine Illusionen machen, mehr lärmiges Begleitgedöns als Mittelpunkt des Events.
Nackt und ungeschminkt
Jetzt aber bleibt auf der Bühne nur noch die 26-jährige Stefani Germanotta, die über ihren eigenen, bereits über ein Jahrzehnt andauernden Kampf gegen Bulimie und Magersucht spricht, darüber, dass sie um 5 Uhr früh aufsteht, um stundenlang auf dem Laufband zu schwitzen, damit sie am Abend bei ihren Shows eine gute Figur macht. Und über ihre neue Rolle, als Gründerin der Aktion «Body Movement» ihres Anti-Mobbings-Hilfwerks «Born this Way-Foundation», wo sie tags zuvor Fotos postete, die sie nackt und ungeschminkt zeigen, und Fans dazu aufforderte, dasselbe zu tun, als Kampf gegen die eigene Unsicherheit und pervertierte Schönheitsideale.
Ganz normal: Lady Gaga postet auf ihrer Fan-Page «Little Monsters» ungeschminkte Fotos von sich. (Bild: Little Monsters)
Nur ein weiterer Schachzug das Marketingprofis – oder ein echter Aufbruch zu neuen Ufern? Der zweite Teil des Abends jedenfalls unterscheidet sich grundlegend von der anfänglichen Monster-Show. Lady Gaga nimmt sich Zeit, um Fangeschenke zu öffnen, mit dem Publikum in der ersten Reihe zu plaudern, und holt schliesslich nach einer emotionalen Rede ein (vor Freude völlig aufgelöstes) elfjähriges Mädchen und dessen Familie auf die Bühne, um gemeinsam die Balladen «Hair» und «Princess Die» zu singen – zwei der wenigen, nachdenklichen Nummern im ansonsten auf club- und poptauglichkeit getrimmten Gaga-Repertoire, und eindrückliches Zeugnis der stimmlichen Fähigkeiten Germanottas.
«Pokerface» war gestern
Die Verwandlung ist komplett: Plötzlich scheint der Megastar ganz nah, fragil und schutzlos. Am Ende bedankt sich Gaga herzlich bei der Gay- und Queercommunity, erinnert sich an ihre ersten Schweizer Auftritte in Schwulenclubs, und bittet dazu ein paar hiesige Drag Queens zu sich auf die Bühne, mit denen sie lachend auf dem Laufsteg der Halle um die Wette stolziert.
«I am you, you are Lady Gaga», haucht die gerührte Pop-Queen zum Schluss unter ohrenbetäubendem Jubel – und anders als zuvor, versteht man es in diesem Augenblick nicht als megalomanische Selbstbeweihräucherung, nicht als die leere Fläche einer chamäleonartigen Ikone, sondern als die eigentliche Botschaft der «Born this Way»-Tour: «Lady Gaga, das bin nicht ich, das ist ein pures Konstrukt für euer Entertainment, hinter dem Pokerface steckt ein Mensch, der genauso wenig perfekt, genauso stinknormal ist wie ihr, ein Mensch wie jeder andere.»
Diese so simple und doch so selten live und direkt zu erlebende Erkenntnis, geschmückt mit all ihrem Charme und Facettenreichtum, mit allem Bling-Bling des Showbusiness und allen Brüchen der Post-Postmoderne, macht Lady Gaga zur eigentlichen, quintessentiellen Entertainerin der Youtube-Gemeinde, zur legitimen (Pop-)Stimme der Generation 2.0. Denn angesichts des sich im Internet-Zeitalter zuspitzenden Grundsatzkonflikts zwischen der Sehnsucht nach Öffentlichkeit und dem Recht auf Privatsphäre provoziert die Frage «Wie dick ist ihr Hintern?» die Gegenfrage: Sind wir nicht alle ein bisschen Gaga?
- Hallenstadion, Zürich, 27.09., 19.30 Uhr: Zweites Konzert der «Born This Way»-Tour, ausverkauft.
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