Postmodernes Wintermärchen

Der russische Kultautor Wladimir Sorokin legt mit «Der Schneesturm» einen brillanten Roman vor.

Hat mit seinem Werk in Russland schon heftige Proteste ausgelöst: Wladimir Sorokin. (Bild: dapd)

Der russische Kultautor Wladimir Sorokin legt mit «Der Schneesturm» einen brillanten Roman vor.

Wer den neuen Roman «Der Schneesturm» (Leseprobe) des russischen Kult­autors Wladimir Sorokin liest, tut gut daran, sich hinter einem Ofen zu verkriechen: Es schneit fast ununterbrochen in dem 200-seitigen Werk. Mal fallen die Flocken im Lot vom Himmel, dann bläst sie der Wind den Protagonisten direkt ins Gesicht. Als es nach mehr als der Hälfte des Romans endlich aufhört zu schneien, wird es erst richtig kalt. Und dann, der Lesende ahnt es schon, beginnt es wieder zu schneien.

Clevere Täuschung

Der Schnee, der zuweilen durch einen Sturm dahergebracht wird, steht für die Widrigkeiten der Zeit. Der Landarzt Platon Garin, eingepackt in Biberfelljacke und Fuchsschwanzmütze, kämpft dagegen an. Er will Impfstoff durch den russischen Winter ins Dorf Dolgoje bringen – dort werden die Bewohner von einer merkwürdigen Seuche (der «bolivianischen Pest») heimgesucht. Seine Pferde sind jedoch erschöpft, und er kann bloss den kauzigen Kutscher Krächz auftreiben, der ihn weiterführt. Man wähnt sich zunächst im 19. Jahrhundert.

Zu Beginn von Sorokins meisterhaft geschriebenem Roman, der einen von der ersten Seite an fesselt, gibt es Parallelen zu Erzählungen von Alexander Puschkin. In der Novelle «Der Postmeister» etwa hat der grosse Dichter des 19. Jahrhunderts eindringlich beschrieben, wie die Leute in Russland mit der Pferdekutsche unterwegs waren. Damals ärgerte man sich, wenn der Postmeister keine frischen Pferde hatte, so ähnlich wie man das heute tut, wenn der Postmaster eine schlecht adressierte E-Mail zurückschickt.

Sorokin führt seine Leserschaft jedoch an der Nase herum: Erst nach und nach wird klar, dass wir uns nicht im 19. Jahrhundert befinden. Ein Müller, bei dem der Arzt und sein Kutscher Unterschlupf finden, hat eine Kalaschnikow an der Wand aufgehängt. Der Arzt Garin beklagt sich, dass der Müller nicht einmal über ein Telefon verfüge. Der Müller ist ein Zwerg – nicht grösser als eine Wodkaflasche – und sitzt seiner Frau auf dem Busen. Nach einem sexuellen Abenteuer mit der «schönen Müllerin» (Sorokin schreibt den Ausdruck Deutsch) reist Garin am nächsten Tag weiter nach Dolgoje. Dort kommt er aber nie an – im Weg steht dem Arzt auch seine Ungeduld.

Seltsamer Trip

Garin überlebt die Fahrt durch die Steppe zwar. Er entpuppt sich aber als moralischer Versager, der sogar das Geld ausgibt, das er eigentlich dem Kutscher versprochen hat. Krächz hingegen, der ein genügsames Leben führt und gut zu seinen «Pferdis» ist (eines ist so gross wie ein Rebhuhn– dafür hat er 50 Stück davon an seinen Schlitten gespannt), erfriert auf der Reise. Sorokins postmodernes Wintermärchen endet bitterlich.

In der zeitgenössischen russischen Literatur ist es en vogue, die Genres Fantasy oder Science-Fiction poetisch zu verdichten, wie «Die Welt» kürzlich schrieb. Sorokin lässt in seinem Buch den Arzt und seinen Kutscher auf Menschen treffen, die in Zelten aus lebend gebärendem Filz hausen. Schneidet man den Filz durch, wächst er sofort wieder nach. Garin wird von ihnen auf einen seltsamen Trip mitgenommen, der so schrecklich ist, dass er sich nach dem Aufwachen wieder über sein Leben freut und ein besserer Mensch werden will. «Alle Menschen sind Brüder», sagt er zu Krächz. Bald darauf lässt ihn die Unbill des russischen Winters seine hehren Grundsätze wieder vergessen.

Der Autor, der 57 Jahre alt ist und in Moskau wohnt, hat eine Vielzahl von Büchern geschrieben. Darin nimmt er auch immer wieder die russischen Eliten aufs Korn. Eine direkte Kritik am Putin-Regime in seinen literarischen Werken vermeidet er aber. «Ich will nicht die Literatur als Brechstange gegen die Putin- oder Medwedew-Politik missbrauchen», erklärte er einmal.

Obszöne Szenen

Berühmt ist etwa sein Roman «Die Schlange», der 1985 in Frankreich erschien und erst nach der Perestrojka in Russland publiziert werden konnte. Darin geht es nicht um das Reptil, sondern um die Warteschlange – die Menschen erfahren bis zum Schluss der Geschichte nicht, wofür sie anstehen. Sorokins Parodie russischer und sowjetischer Literatur und seine Schilderung obszöner Szenen haben in seiner Heimat schon zu heftigen Protesten geführt: etwa durch Putins Jugendbewegung «Naschi». Doch der Autor, der im Westen seit Längerem hoch angesehen ist, findet in letzter Zeit auch in Russland bei der Jugend mehr Leserinnen und Leser, wie die Zeitung «Moskowsi Komsomolez» berichtete.

Im Roman «23’000» – dem letzten Teil der Trilogie «Eis» – erklärte er das Projekt Menschheit schon mal für gescheitert. Dass einzelne Exemplare dieser Spezies wunderbare Bücher wie «Der Schneesturm» hervorbringen, lässt uns noch hoffen. 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12

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